Der Wirklichkeitserleuchter

„Sprache ist die schönste, umfassendste und beeindruckendste Technologie, die der Mensch erfunden hat“: Mit seinem Erzählband „Die Geschichte von Nichts“ bestätigt der Schriftsteller Peter Glaser, dass er im vergangenen Jahr das Ingeborg-Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt zu Recht gewonnen hat

Die Splitter der Welt zusammensetzen, damit die Uhrwieder läuftPeter Glaser huldigt der Macht der Naturund ihrem eigenen Rhythmus

von GERRIT BARTELS

Pit Heylmann hat eine Idee. Eine schöne Idee, wie er findet, eine, die ihn erfrischt und erweckt, bezaubert und verzückt; die aber, wie das Ideen oft an sich haben, nicht wirklich zu greifen ist, nicht in Worte gekleidet werden kann. Erste Formen nimmt die Idee an, als Heylmann eines Tages seine Abneigung Geschichten gegenüber feststellt. Er versucht, noch gegen die belanglosesten Geschichten vorzugehen, sie zu neutralisieren, ihnen das Erzählte zu nehmen, sie zu vernichten gar. Heylmann weiß jetzt: Er will das Ende aller Geschichten, und er will darüber einen epochalen Roman schreiben.

Selbstverständlich hat diese Geschichte über Pit Heylmann und seine Idee einen Anfang und ein Ende, und auch einen Urheber und einen Titel: Sie stammt von dem Berliner Schriftsteller und letztjährigen Bachmann-Preisträger Peter Glaser, heißt „Die finnische Ameise“ und ist in Hubert Winkels Anthologie „Beste Deutsche Erzähler“ erschienen; und selbstverständlich ist Glaser keineswegs an einem Ende aller Geschichten interessiert. Vielmehr versucht er, wie er bei einer Lesung in Berlin verrät, „es sich beim Schreiben so schwer wie möglich zu machen: Wie erzählt man eine Geschichte über jemand, der Geschichten hasst?“

Trotzdem verweist „Die finnische Ameise“ schön auf eines der poetologischen Credos von Peter Glaser: Er mag keine Plots, er hat was gegen Stringenz, gegen Geschichten, die leicht nachzuerzählen sind und einer Auflösung zustreben. Die fünf Erzählungen seines neuen Buches „Die Geschichte von Nichts“ beweisen, wie Peter Glaser bewusst vermeidet, stürmisch-flott zu erzählen, wie gern er sich in Einzelheiten verliert, wie sehr er das Betrachten der Dingwelt schätzt, aber auch das Komplexe und Labyrinthische. So beginnt eine Erzählung damit, dass ein Mann seinem Sohn ein letztes Mal eine Geschichte zum Einschlafen erzählt, „die Geschichte vom Licht in der Stadt“, in der wiederum eine Frau einem Mann ein Märchen erzählt, das dieser dann in der folgenden Nacht nacherlebt. Als der Mann schließlich seinen Sohn ins Träumen gebracht hat, sagt er: „Auch ich wollte an eine Stelle, an der ich einen Traum sehen konnte, ich hatte ihn auf einem Spaziergang vor ein paar Tagen entdeckt.“ Es ist nicht leicht, den Fortgang dieser Erzählung knapp und auf den Punkt wiederzugeben. „Nach einem langen Sommer“, so ihr Titel, ist die Geschichte eines Mannes, der sich mit seiner Frau nicht mehr versteht, eine Geschichte über das Licht, die Dunkelheit und das Sehen, eine Geschichte, die aus lauter Wahrnehmungssplittern besteht und ohne echtes Zentrum ist.

Peter Glaser, der wegen einer schweren Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis in einem Rollstuhl sitzen muss, sagt wiederum an diesem Abend im Gebäude der Allianzversicherung, im 30. Stockwerk der Treptowers im Himmel über Berlin, er wolle mit seinen Geschichten daran arbeiten, „die Splitter der Welt wieder zusammenzusetzen, damit sozusagen die Uhr wieder läuft“. Das klingt erst mal paradox, gerade nach der Lektüre einer Erzählung wie „Nach einem langen Sommer“. Es erschließt sich aber aus der Schriftsteller-Vita von Peter Glaser, der das Schreiben in einer Zeit begann, als „Dekonstruktion“ der Künstler und Denker liebster Beschäftigung war, als „Zitat-Pop“ die Musik zur Zeit war und sich mit den ersten Computern ein neues Paralleluniversum zu entwickeln begann.

„Der große Hirnriß“ hieß Glasers erster Roman, den er 1983 zusammen mit seinem Freund Niklas Stiller schrieb und in dem zwei unterschiedlich sozialisierte Erzähler, ein aufbegehrender Punk und ein introvertierter 68er, „neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit machten“, wie es auf dem Buchumschlag hieß. Ein Jahr später brachte Glaser die Anthologie „Rawums“ heraus, die seinen Namen in Folge mit einem der großen literarischen Aufbrüche in der neueren deutschen Literatur verknüpfen sollte. Die Zusammenstellung von Texten von unter anderem Rainald Goetz, Joachim Lottmann, Kiev Stingl oder Hubert Winkels gilt heute als Blaupause für das Genre, das erst fünfzehn Jahre später als Popliteratur seine kurze, aber heftige Vollblüte erleben sollte. Allerdings hatte „Rawums“ in erster Linie programmatischen Charakter und war mehr ein lockeres Versprechen auf die Zukunft als ein Reader mit großer literarischer Substanz. Glaser wollte, wie er in seinem Intro schrieb, „lange eingedämmte Eigenschaften wieder glasklar zum Ausdruck kommen“ lassen: „Ungebremst vom ameisenhaft durcheinander krabbelnden Bedenken“ sollte die neue Literatur sein, „selbstsicher“, „adrenalintreibend, störend und ungehalten“, „schnittig, schräg, witzig, treffend“, (au ja, „schnittig, schräg“, so was durfte man 1984 noch ungestraft fordern!) und „Strategien zwischen rabiater Ablehnung und offensiver Affirmation“ erproben.

Glaser versuchte diesen Forderungen in zahlreichen Essays, Erzählungen und Kolumnen nachzukommen, schaffte sich selbst als Liveperformer ab, indem er einen Computer seine Lesung mitsamt anschließender Moderation übernehmen ließ, beschäftigte sich dann aber mehr und mehr mit der Informationstechnologie. Sein Geld verdiente er schließlich als journalistisch tätiger Computerkulturerklärer für diverse Computermagazine und Zeitschriften wie Tempo, die Woche oder den Stern. Die Literatur der Neunzigerjahre musste ohne ihn auskommen: In Buchform erschienen von ihm nur diverse Internet-Reader.

Heutzutage, da Peter Glaser mit seiner Ingeborg-Bachmann-preisgekrönten Erzählung „Geschichte vom Nichts“ und dem gleichnamigen Erzählband erfolgreich und sprichwörtlich aus dem Nichts auf die literarische Bühne zurückgekehrt ist, steht er der neuen Medienwelt mehr als skeptisch gegenüber. Da spricht er davon, „eigene Bilder gegen die Bilderflut der Medien“ setzen zu wollen, da ist für ihn die Sprache „die schönste, umfassendste und beeindruckendste Technologie, die der Mensch erfunden hat“, und da sieht er sich als Schriftsteller verstärkt auf der Suche „nach diesem rätselhaften Objekt, das Realität oder Wirklichkeit heißt“.

Auf diese Wirklichkeitssuche lässt er auch die Figuren seiner Erzählungen gehen. Allesamt sind sie Außenseiter mit einem kleinen Hau und Problemen in ihrem Beruf: Medienarbeiter, Hacker, Mc-Jobber. Überwiegend stecken sie in hoffnungslosen Beziehungen, mitunter im Dreieck. Fast alle sind sie Ich-Gestörte, die versuchen, Wirklichkeit in Form von „Nähe“ zu Menschen, zu den Dingen zu erlangen: „Vervielfacht zu einem Gleichschritt der Bilder zeigte sich auf Monitorwänden der Sieg der Ferne. Das Fernzusehende war zur einzig bedeutenden Wirklichkeit geworden, und beide spürten sie, wie die Nähe endgültig zu schwinden schien“, heißt es einmal. Gegen dieses Verschwinden aber stemmen sie sich wacker. Zum einen, indem sie eine erhöhte Sensibilität der Außen-und Dingwelt gegenüber entwickeln. Ein richtiges Glück ist es dann schon, wenn ein zu Boden fallendes Blatt Papier hochkant stehen bleibt, eine Glasplatte hübsch eingepackt wird oder im Gefängnis unter schwierigsten Umständen eine Uhr ohne Probleme aufgezogen werden kann. Zum anderen, in dem sie sich in verschärften Sinneswahrnehmungen üben. Sie spüren den Tönen eines gefüllten Kühlschranks nach, bezwingen den Lärm in einer Fabrik mit eigenen Rhythmen aus dem Körperinnern oder versuchen „ein Ganzes in allen Einzelheiten zu sehen, in seiner Beschaffenheit und seiner Bewegung“, etwa Haare oder Grashalme.

Diese Strategien der Wirklichkeitseroberung ermöglichen Glasers Figuren ihre Lebensbalance zu wahren und schließlich sogar – jede Erzählung von Glaser endet mit einem Hoffnungsschimmer – an andere Zeiten zu glauben, neue Zweisamkeitsversuche zu starten, „leuchtende Heldentaten des Geistes zu schaffen“ oder zumindest „in einer Armee der Gerechten im Stillen für eine gute Sache zu kämpfen: für das Ende des Kampfs, und sei es vergebens“.

Ja, Peter Glaser ist ein Schwärmer und großer Pathetiker. Er ist der Liebe auf der Spur, er bietet dem Tod und dem Nichts die Stirn, er huldigt der Macht der Natur und ihrem eigenen, unabänderlichen Rhythmus. Technologie ist bei ihm nicht mal mehr ein warmes Gewehr, keine Verheißung auf die Zukunft, höchstens noch „Erlebnisausriss“ und Hilfsmittel zur endgültigen Wahrheitsfindung. So sehr es Glaser aber genau um diese geht, um das Zusammensetzen der Splitter, um den einen großen Weltzusammenhang – so sehr hat man als Leser zuweilen den Eindruck, seine Erzählungen, die von zahlreichen Absätzen unterteilt sind, fliegen eher auseinander, als dass sie selbst eine kompakte Einheit sind, haben nicht wirklich einen Anfang und ein Ende. Bloß nicht ins Erzählen kommen: Anti-Franzen, wenn man so will, Anti-Politycki, auch Anti-Pop, mehr frühe Sonic Youth als Gumball. Zumal Glasers Erzählungen sich mit wiederkehrenden Motiven und Personal vielfach miteinander verschränken und wie Teile eines noch ungeschriebenen Ganzen wirken. Man wünscht Glaser, dass es ihm nicht so ergeht wie seinem Pit Heylmann, dem nach neun Jahren Ideenwälzen ein anderer mit einer läppischen Erzählung zuvorkommt, und dass er den Roman zu Ende bringt, an dem er schon seit über einem Jahrzehnt sitzen soll. Immerhin hat Glaser für diesen Fall vorgebaut: „Jedes Scheitern ist ein geheimnisvoller Sieg“, heißt es in „Die finnische Ameise“ am Ende.

Vorerst begnügt man sich gern mit der genauso sinnlichen wie hochartifiziellen Prosa dieser Erzählungen, mit ihren schönen, kühlen Bildern, die auch ohne den Blick aufs Ganze ihre Pracht entfalten: „Unter dem späten Licht öffnete sich der Fluss spiegelnd zu einem tieferen Himmel. Die letzten Schwimmvögel zogen Spuren über das polierte Wasser, wie Glasschneider.“ Oder: „Am Ende sah ich Schürzen von stürzendem Staub an einem zusammenbrechenden Gebäude; als ich näher kam, waren es wogende Helligkeiten auf den Mulden und Wölbungen, die der Wind in die Plastikplane vor der eingerüsteten Fassade eines Hochhauses drückte.“

Er habe, so sagt Peter Glaser an diesem Abend in den Treptowers noch in dem ihm eigenen, ehrlichen Pathos, er habe beim Schreiben immer den Antrieb, „den Himmel ein wenig höher, die Welt ein wenig weiter“ werden zu lassen. Man mag ihm attestieren, dass ihm das mit so manchem seiner Sätze von „Geschichte von Nichts“ vollauf gelungen ist.

Peter Glaser: „Geschichte von Nichts“. Erzählungen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 190 Seiten, 16,90 €ĽHubert Winkels (Hg.): „Beste deutsche Erzähler“. DVA München 2003,320 Seiten, 19,90 €