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Schäfchenzählen zwischen Hochsaison und tiefer Ödnis: Klaus-Dieter Niedorff ist seit fünf Jahren Pastor auf der Hallig Hooge

von UTA ANDRESEN

So muss man wohl beschaffen sein, wenn man es hier länger als ein paar Monate aushalten will, hier, wo die Menschen „nicht so herzlich umarmend sind“. Sein Vorgänger brauchte schnell wieder festen Boden unter den Füßen, nahm nach nur zwei Sommern und einem Winter die nächstbeste Fähre und ist nun wieder dort, wo er herkam. Aber er? Er wird nicht vom Wind „brägenklüterig“, was so viel wie gehirnwackelig heißt. Fürchtet bei Sturm erst, wenn das Wasser vierzig Zentimeter unter der Deichkrone steht: „Jetzt krieg ich nasse Füße.“ Und wenn die von der Plattdeutschen Theaterbühne meinen, ausgerechnet er, der Pastor, solle den „verquirlten Postboten“ spielen, der sich ständig einen hinter die Binde kippt, dann denkt er sich zwar „Die haben wohl einen an der Waffel“, aber er macht mit. Denn sein Aufenthalt hier ist von einer Erkenntnis geprägt: „Wer sich außerhalb der Gemeinschaft stellt oder andere bekehren will, hat schlechte Karten.“

Klaus-Dieter Niedorff, 60, auf St. Pauli von einer „kernigen Großmutter“ großgezogen, die Sprache so gedehnt wie der Bauch unter seinem blauen Hemd, kurze graue Haare, witzgestählte Fältchen um die braunen Augen, dicker Goldring am Finger – ein Ring, der durchaus als ludenhaft durchgehen könnte, wüsste man nicht, dass hier ein Gottesmann sitzt. Ein Hamburger Jung, der an den Wochenenden nichts lieber tat, als am Millerntor ins Stadion zu gehen und sich mit tausenden von Fans, Punks mit Ratten und Nieten, Kiffern mit Dreads und Lederkutte, Jungwerbern mit Handys und schicken Sakkos, die Seele aus dem Leib zu brüllen. „Spielen können die zwar nicht, aber eine Stimmung ist da …“ Klaus-Dieter Niedorff dehnt das „da“ zu einer seligen Erinnerung, schließt behaglich die Augen. Er muss es genossen haben, das Aufgehen in der Masse. Was, in Gottes Namen, will so einer hier?

Auf Hooge, einer nordfriesischen Hallig von gut fünf Quadratkilometern, ein Inselchen, eine Handvoll satte Weiden und hohe Warften, die bei Sturm aus der Flut ragen sollen, inmitten von Watt, Wasser und Möwengewirr. Stallungen, die vor Jahren noch Gastvieh vom Festland im Sommer beherbergten, sind zu Ferienwohnungen umgebaut. 350 Gästebetten bei 110 Einwohnern gibt es. Sandsteinsarkophage, die vor Jahrzehnten bei einer Sturmflut im Watt vor der Hallig freigespült wurden, haben die Halligbewohner zu Viehtränken umgewidmet. „Was hätte man auch mit den Dingern machen sollen?“, fragt der Pastor. Ja, was eigentlich?

Die Kirche wurde um 1640 aus den Resten des Gotteshauses aus dem untergegangenen Ort Osterwohld gebaut. Die eigene Holzkirche war schließlich knapp dreihundert Jahre zuvor in der „Großen Manndränke“, wie die verheerende Sturmflut des Mittelalters an der Westküste genannt wird, abgesoffen. Und auf dem Kirchhof wird übereinander beerdigt, nicht nebeneinander. Ist auch eng, auf so einer Warft, und wer den Friedhof in die Ebene verlegt, muss damit rechnen, dass nach dem nächsten Landunter die Vorfahren durch die Gegend schwimmen. Man ist pragmatisch, auf der Hallig.

Das Fernglas steht griffbereit in der verglasten Holzveranda, die Kirchwarft ist wie ein Hochsitz, und Pastor Niedorff der Seelenjäger, der von hier aus sein Revier überschauen kann. Zur Linken den Anleger, an dem sommers die Touristen schiffsweise ans Land spülen und wo die Einheimischen winters die Vormittags- oder Abendfähre kaum erwarten können, um zum Einkaufsbummel oder Besuch ans Festland zu schaukeln. Zur Rechten die Hanswarft. Hier spielt sich das Halligleben ab, bis zu zwanzigtausend Touristen im Jahr sehen sich den Königspesel an, die prachtvoll gekachelte Stube, in der 1825 der dänische König Frederik VI. übernachtete, und verdrücken Riesenportionen Matjes und rote Grütze mit Vanilleeis, nachdem sie ermattet vom Halligspaziergang in einer der vier Gaststätten auf der winzigen Warft eingekehrt sind.

Fünf Jahre ist er jetzt hier. Fünf Jahre, in denen er den immer wieder kehrenden Rhythmus der Hallig kennengelernt hat. Jeden Tag Ebbe und Flut, jedes Jahr Hochsaison und tiefe Ödnis. Im Sommer Gekicher und Gekreisch auf der Kirchwarft, in Pastors Garten blühen die Stockrosen, und Niedorff springt schon mal vom Tisch auf, um besonders renitente Schaulustige, die sich samt ihren Rucksäcken auf den Grabsteinen niedergelassen haben, vom Kirchhof zu scheuchen.

Im Winter pustet der Wind um das hundert Jahre alte Backsteinhaus, der Pastor tauscht das Hemd gegen den Blaumann und beschäftigt sich mit den Fliesen in der Waschküche oder dem Glockenturm im Garten und ist froh, wenn auf einer der Nachbarwarften ein siebzigster Geburtstag oder ein Skatabend steigt, und „man unter vier Stunden nicht wegkommt“. „Gegen Ende des Sommers reicht es mit dem Tourismus, gegen Ende des Winters reicht es mit dem Winter“, sagt Pastor Niedorff.

Klaus-Dieter Niedorff war 25 Jahre alt, soeben zum Pfarrer ordiniert, da schickte ihn sein Bischof nach Ens an die Donau. „Da sollte ich eine Kirchengemeinde wiederaufbauen, die 350 Jahre zuvor durch die Gegenreformation aufgelöst wurde.“ Ein Norddeutscher auf Mission im erzkatholischen Österreich. „Ich sollte die Evangelischen suchen und sammeln.“ Pastor Niedorff dürfte einige Zeit gebraucht haben – in einem Gebiet von tausend Quadratkilometern fand er gerade mal 850 Gemeindemitglieder.

Da muss er hier nicht lange suchen: Hundert Einwohner der Hallig zählen offiziell zu seiner Gemeinde. Nur mit dem Sammeln ist das so eine Sache. „Einer meiner Vorgänger meinte, die Hooger wollen gar keinen Pastor.“ Die kleine Halligkirche ist selten voll. Aber Pastor Niedorff wäre nicht ein zäher Diener seines Herrn, wenn er nicht auch hierin das Gute sehen würde. „Wenn acht Leute kommen, sind das immerhin acht Prozent meiner Gemeinde und damit stehe ich allemal besser da als die Pastoren auf dem Festland.“

Nur seiner Frau muss klar gewesen sein, dass acht Zuhörer im Gegensatz zu achtzig, auf die er zuletzt sonntags von der Kanzel herabblicken konnte, eine geradezu narzisstische Kränkung für jemanden sein muss, der stets betonen muss, „ein einfacher, gläubiger, frommer Mann“ zu sein. „Als ich hierher wollte, meinte sie, ich solle es mir gut überlegen, ob ich mit dieser geringen Zahl von Leuten klar kommen würde.“ Und, wie kommt er klar? Pastor Niedorff setzt seine Worte wohl überlegt. „Ich sehe meine Arbeit hier zum großen Teil als missionarische Arbeit in der heutigen säkularen Zeit der großen Kirchenferne.“

Wie man sammelt, wo es kaum etwas zu finden gibt? Kaum durch Frömmigkeit. „Ich bin nicht der Typ, der andere bekehren will, ich versuche, mitzuleben.“ Manchmal kommen im Sommer mit dem CVJM junge, fromme Menschen aus Süddeutschland auf die Hallig. Und Pastor Niedorff macht den Eindruck, dass ihm diese pietistischen Gemeinden allzu eng sind. Aber heutzutage sind treue Schäfchen ja selten.

Bei Pastors jedoch geht es anders zu. Etwa im Herbst, zum Erntedankfest. „Da wird Korn eingefahren.“ Soll heißen, die Halligleute treffen sich in der guten Stube auf der Kirchwarft, laden sich Kuchen, Mettwurst- und Schmalzbrote auf die Teller, dazu gibt es Kaffee und einen, zwei oder mehr Kurze. „Die Menschen, die hier draußen leben, haben einen anderen Bezug zur Natur.“ An der Orgel greift der Pastor selbst in die Tasten und lässt die Pfeifen keuchen und den Gottesdienst hält er auf Platt – das verstehen die Leute. Und wenn es ans Festland geht, dann ist der Pastor auch dabei, mindestens einmal im Monat, wenn er seine Freunde in Hamburg besucht – „alles Wirtschaftskapitäne von Springer oder BP“. Auf der Überfahrt sitzt Niedorff dann bei seinen Hoogern.

Und die halten etwas auf sich. „Wer auf Hooge zurechtkommt, kommt mit Sicherheit auf dem Festland zurecht. Aber nicht jeder, der auf dem Festland zurechtkommt, kommt auf Hooge zurecht“, sagt Pastor Niedorff. Da war zum Beispiel diese Frau, die vor ein paar Wochen zu ihm kam. Mittleren Alters, wollte nach Hooge ziehen. „Ich hab sie gefragt, was sie hier machen will“, sagt Pastor Niedorff. Hauswirtschaftskurse und rhythmisches Tanzen war die Antwort. Da musste der Pastor milde lächeln. „War wohl ne Midlifecrisis.“ Ganz anders dagegen Samar, die Kindergärtnerin der Hallig, die den Sohn des Bürgermeisters geheiratet hat. Sie ist aus Beirut, Muslimin, begeht jedes Jahr gläubig den Ramadan, während der Rest der Hallig das Frühjahr herbeitrinkt. „Die spielt sogar bei der Heimatbühne mit, Plattdeutsch mit libanesischem Akzent.“

Überhaupt, das Trinken. Einer der Vorgänger Niedorffs, Pastor Koch, führte im 19. Jahrhundert einen regelrechten Kreuzzug gegen den Alkoholismus im nordfriesischen Wattenmeer. Wenn der den Halligleuten einen Besuch abstattete, kontrollierte er erst einmal die Schränke und goss alles in den Ausguss, was nach nicht nach Holunderbeersaft roch. „Das konnte er sich auch nur erlauben, weil er der Pastor war. Und die Halligbewohner liebten ihn dafür, dass er sie in Rechtsdingen hervorragend vertrat.“ Ein Hochprozentiger eben. Derartiges Gebaren ist Niedorffs Sache nicht. „Wenn ich im Winter so rumkomme auf Besuch, drei, fünf, sechs Tassen Teepunsch, da muss man aufpassen, und wenn das so schön gemütlich ist, und draußen ist es nass und kalt.“

Aber nach einem Jahr wussten es auch die Hooger: „Vor Ostern macht unser Pastor sieben Wochen ohne, da gibt es kein Bier und keinen Schnaps.“ Wenn es hart kommt, helfen dem Pastor seine Jugendjahre auf St. Pauli. „Da heißt es: Keiner sieht, wenn ich Durst habe, aber jeder sieht, wenn ich besoffen bin.“ Niedorff hätte auch sagen können: Eines jedes hat seine Zeit. Doch mit Bibelsprüchen, so scheint es, ist man hier besser vorsichtig.

Ja, die Vorgänger. Pastor Kretzmann hat es nicht lange ausgehalten, Probst Heyde hat während der Achtzigerjahre Literarisches verfasst, und Pastor Koch hat die Hallig trockengelegt. Und er, Pastor Niedorff? „Ich bin kein Hooger und werd auch nie einer werden. Aber wenn ich hier mal weggehe, möchte ich, dass die Leute sagen: Da geht unser Pastor.“ Ein Wunsch, so bodenständig, wie es sich für einen Hamburger Jung gehört, und so hochfahrend, wie ihn ein Seelenjäger Gottes nur formulieren kann.

UTA ANDRESEN, 33, aufgewachsen in Nordfriesland, kann aus eigener Anschauung bestätigen, dass an Weihnachten auch die Dorfkirche in Dagebüll stets gut besucht ist. Mit Messen in Berlin, wo die Journalistin inzwischen lebt, hat sie keinerlei Erfahrung