„Politik ist nichts für Karrieristen“

Günter Verheugen über Abschiede in der Politik – erzwungene und freiwillige

Interview PATRIK SCHWARZ

taz.mag: Herr Verheugen, vor vierzig Jahren trafen Sie zum ersten Mal Hans-Dietrich Genscher. Vor knapp dreißig Jahren haben Sie zum ersten Mal einen Arbeitsstab im Auswärtigen Amt geleitet, vor fünf Jahren wurden Sie Joschka Fischers Staatsminister – geben Sie zu: Sie wollten immer schon Bundesaußenminister werden.

Günter Verheugen: Nein.

Schwer zu glauben.

Ich war einmal Schattenaußenminister, in der Regierungsmannschaft von Rudolf Scharping 1994. Aber es war ja klar, dass ich das nur deshalb war, weil ich nicht Außenminister werden sollte.

Bis Joschka Fischer vor kurzem seinen Wechsel nach Brüssel abblies, wurde weithin spekuliert, Sie würden für die SPD sein Nachfolger in Berlin.

Sie sagen das richtig: Es wurde spekuliert. Mit mir hat kein Mensch jemals darüber gesprochen. Ich habe auch keine Ansprüche erhoben, gegenüber niemandem. Ich muss überhaupt nichts mehr werden.

Als Fischer erklärte, er werde 2006 wieder antreten, da mussten Sie von keinem Traum Abschied nehmen?

Wo denken Sie hin, nein!

Seit vierzig Jahren laufen Ihre Jobs auf den Posten des Außenministers zu – und Sie wollen uns weismachen, Sie wollen ihn nicht?

Dann hätte ich in der FDP bleiben müssen. Ich meine, das ist doch klar: In Deutschland ist es nun mal Tradition, und das wird sich so schnell auch nicht ändern, dass der Spitzenmann des kleineren Koalitionspartners Außenminister wird.

Ist der 24. November für Sie ein besonderer Tag?

Dieses Jahr oder überhaupt?

In Ihrem Leben.

Da muss ich stark nachdenken … Nein, ich passe.

Das Archiv sagt, am 24. November 1982 sind Sie aus der FDP ausgetreten.

(lacht) Sie sehen, ich habe das Datum nicht im Kopf. Aber es war ein wichtiger Tag.

Sie waren damals Generalsekretär der FDP, ein Vertrauter Hans-Dietrich Genschers, Sie haben die FDP verkörpert. Warum haben Sie einen Abschied riskiert?

Ich habe nicht viel über das Risiko nachgedacht. Es war für mich eine Notwendigkeit auszutreten. Ich fand, man kann nicht die Stimmen, die man im Wahlkampf 1980 für Helmut Schmidt gewonnen hat, dazu verwenden, ihn aus dem Amt zu jagen. Das ist moralisch unmöglich.

Außerdem war ich überzeugt, dass die FDP keine liberale Politik mehr würde durchsetzen können, weil sie sich völlig in die Gefangenschaft der CDU begab. Da fühle ich mich inzwischen ziemlich eindrucksvoll bestätigt.

Jungen Politikern heute wird gerne vorgehalten, sie seien primär an Karriere interessiert. Sie waren damals jemand, der sehr jung sehr schnell Karriere gemacht hat …

… ja, und der dann sehr lange Zeit wieder Kärrnerarbeit leisten musste. Wenn Sie eine Lebenserfahrung hören wollen: Wenn man unbedingt Karriere machen will, sollte man sich ein anderes Betätigungsfeld aussuchen als die Politik.

Warum?

Die Politik ist in meinen Augen für Karrieristen zu gefährlich. Maßgeblich ist hier die Idee, die Vision – und die kann man fast niemals vollständig erreichen. Man muss in der Lage sein, mit vielen Niederlagen umzugehen, vielleicht sogar mit vollständigem Scheitern.

So selbstlos war die Welt aber auch 1982 nicht.

Nein, natürlich war sie das nicht. Die Wahrheit ist: Ich stand damals kurz davor, ganz rauszugehen aus der Politik – dann wären wir heute vielleicht Kollegen. Als Alternative blieb nur: Ich musste mir eine neue politische Heimat suchen. Die Einladung in die SPD verdanke ich Willy Brandt, aber er warnte mich auch: „Ein Parteiwechsel in Deutschland hat immer ein gewisses Odium, die Leute verstehen das nicht, das müssen Sie wissen.“

Er siezte Sie?

Wir waren damals noch per Sie. Das Du war bei ihm ein bewusstes Angebot – Entscheidung, und nicht das automatische Genossen-Du. Und es kam erst drei Jahre später.

Wodurch haben Sie sich damals von einem echten Sozialdemokraten unterschieden?

Als ich zum ersten Mal „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ mitsingen musste, dachte ich schon, dass man dazu geboren sein muss. Mit anderen Worten: Mir fehlte die Tradition. Ich tat mich schwer mit dem dichotomen Weltbild in Teilen der SPD: die da oben, wir hier unten.

Zwei Wochen vor Ihrem Parteiwechsel sagten Sie in einem taz-Interview: „Ich glaube nicht, dass in der SPD wirklich Platz ist für die Vertretung liberaler Gedanken. Wer in die SPD geht, muss wissen, dass er dort für den Anfang vielleicht gebraucht wird, um sozialliberale Wähler an die SPD zu binden, dass aber nach Erfüllung dieser Funktion seine Wirkungsmöglichkeiten beendet sein werden.“

Das hat sich glücklicherweise als falsch erwiesen. Willy Brandt sagte damals, ein Fenster muss aufgemacht werden in der SPD. Ohne ihn wäre ich nicht in der SPD gelandet.

Aber wo haben Sie dann Ihre liberalen Gedanken hingepackt, für die – wie Sie sagen – in der SPD kein Platz war?

Ich habe keine einzige meiner Überzeugungen ändern müssen. Zugegeben, mit den klassichen Sozialpolitikern konnte ich nicht viel anfangen. Ich habe mich in den ersten Jahren von den Themen ferngehalten, die ideologisch allzu aufgeladen waren. Heute ist mein sozialliberaler Ansatz – die Kombination von persönlicher Verantwortung und gesellschaftlicher Solidarität – offizielle Regierungspolitik der SPD.

Wer war widerstandsfähiger in den folgenden Jahren: Sie oder die SPD?

Wir haben uns aneinander gewöhnt. Die SPD hat es mir nicht leicht gemacht, das muss ich schon sagen. Geschenkt worden ist mir da wahrlich nichts. Ich habe wirklich ackern müssen, um überhaupt einen Listenplatz zu bekommen – und ich bin 1983 nur mit Mühe und als Letzter noch reingekommen in den neuen Bundestag, als Letzter!

Sie kamen in eine Partei, von der es heißt, sie definiere sich über den Stallgeruch. Wie riecht die SPD tatsächlich?

Im positiven Sinn nach Geborgenheit, im neagtiven Sinn eben so, wie es in einem Stall nun einmal riecht.

Und ertragen Sie diesen Geruch heute leichter?

Im Gegensatz zu den Porträts, die über mich geschrieben wurden, war das nie ein Problem für mich. In puncto Formen kann ich sehr flexibel sein. Ganz ehrlich: Ich vermisse meine so durch und durch traditionelle oberfränkische SPD hier im Brüsseler Raumschiff.

Sie tragen heute ein Manager-Shirt. Ging es damals darum, mehr Managertypen in die SPD zu holen?

Nein, überhaupt nicht. Es stimmt schon, Willy Brandt wollte Leute wie mich in der SPD stärker verankert sehen. Aber ich stand in der FDP ja nicht für das Unternehmertum, sondern eher für das gebildete, sozial verantwortliche Bürgertum.

Was trugen die?

Die trugen … na ja, was trugen die? Rollkragenpullover? Cordanzüge?

Was ist davon geblieben, bei Ihnen?

Weil ich im Anzug hier sitze? Wie Joschka Fischer sagt: Das ist Dienstkleidung. Sobald ich kann, fliegt die in die Ecke. Und dann trage ich wieder Jeans und Pulli.

Welche Farbe?

Egal. Was gerade da ist.

Ihr Abschied von der FDP war nicht nur ein politischer, sondern auch ein persönlicher. Hans-Dietrich Genscher galt als Ihr Ziehvater.

Ich mag diesen Begriff nicht besonders. Hans-Dietrich Genscher sind so viele Ziehsöhne zugeschrieben worden, ich glaube nicht, dass er selber das so empfunden hat. Ich jedenfalls habe es nicht so empfunden.

Weil er nicht der väterliche Typ war?

Sicher hat er mich gefördert. Aber ich war auch nützlich für ihn.

Wie das?

Wie das so ist: Es gab eine Zeit, wo die Leute gesagt haben, man kann gar nicht unterscheiden, ob ein Text von Genscher geschrieben ist oder von Verheugen. Das war ziemlich symbiotisch.

Um den Preis, dass Sie sich aufgegeben haben für den Älteren, Wichtigeren?

Nein, es ging nicht bis zur Selbstaufgabe. Im Gegenteil. Ich hatte Freiräume, die sonst keiner hatte in Genschers Umgebung.

Wie war der Bruch mit ihm?

Darüber rede ich nicht. Da spielen Dinge hinein, die so persönlich sind, dass ich darüber nicht spreche.

Auch einundzwanzig Jahre später nicht?

Auch einundzwanzig Jahre später nicht.

Was kippt alles weg, wenn man eine Partei hinter sich lässt in Deutschland?

Ich hatte damit gerechnet, dass es Probleme geben würde. Aber es war viel, viel schwieriger, als ich gedacht habe. Ich wusste zum Beispiel nicht, zu wie vielen Jahren harter Arbeit in Bierzelten und auf den hinteren Rängen des Bundestags ich mich in den wenigen Stunden meiner Entscheidung verurteilt hatte. Und in der neuen Partei stieß ich anfangs durchaus auf Misstrauen und Ablehnung. Man weiß nicht wirklich, auf was man sich da einlässt.

Haben Sie den Beruf des Politikers in neuem Licht gesehen?

Natürlich. Als Generalsekretär war ich gezwungen, zu allem meinen Senf dazuzugeben. Ich war es gewohnt, von meinen Gedanken selbst das auf den ersten Seiten der Zeitungen wiederzufinden, was unausgegoren war, unbegründet oder schlicht falsch. Nach dem Parteiwechsel hatte ich auf einmal Zeit, konnte also viel bessere, viel fundiertere Gedanken vortragen als zuvor, das hat aber kein Mensch mehr gedruckt. Damit muss man erst mal fertig werden: Plötzlich kommt kein Echo mehr.

Vom Mr. Wichtig zum Mann ohne Echo?

Man lernt eben, dass in der Politik die Qualität einer Aussage nur so wichtig ist wie der Einfluss dessen, der sie macht.

Sie haben die Erfahrung des Parteiwechsels ja mit Otto Schily gemeinsam, der 1989 von den Grünen zur SPD wechselte. Wen nehmen die Sozis herzlicher auf – einen Liberalen oder einen Grünen?

Herzlich ist wohl in beiden Fällen nicht das richtige Wort. Wir haben uns ja gelegentlich ausgetauscht. Er hat dieselbe Erfahrung gemacht wie ich: Man muss zu beidem bereit sein – sich durchzubeißen und sich anzupassen. Und man darf nicht erwarten, dass es einen Dissidentenbonus gibt. Am Ende zählt nur, was man bringt. Ich würde darum für Otto Schily dasselbe sagen wie für mich: Wenn wir in der SPD beide weit gekommen sind, dann nicht, weil wir von woanders her gekommen sind, sondern trotzdem.

Der Wechsel zog für Sie beide erst mal einen Abstieg nach sich. Manche Leute sehen darin bei Otto Schily seinen Drang begründet, sein Amt bis zur Neige auszukosten: die Amtszeit, die Befugnisse, sogar die repräsentativen Möglichkeiten. Ist Ihnen so ein Gedanke vertraut?

Was Otto Schily betrifft, dazu kann ich aus eigener Anschauung nichts beitragen. Für mich selber sind das gegenstandslose Überlegungen. Otto ist wahrscheinlich sehr viel preußischer als ich.

Die Türen werden aufgehalten, ein Wagen wartet, ein Büro steht zur Verfügung – will man das nach einem Absturz nicht dringender haben, als wenn es immer selbstverständlich war?

Da ist natürlich jeder anders. Für mich ist es kein Problem, zu Fuß zu gehen. Mir hilft da mein rheinisches Naturell. Auf die äußeren Attribute kann ich noch am leichtesten verzichten.

Wenn es nicht die Wärme der Privilegien ist, was wünscht man sich dann sehnlich zurück?

Wenn man ergebnisorientiert ist wie ich, fehlt am meisten der sichtbare Erfolg: Das habe ich geschafft. Man wird viel häufiger vom Gefühl der Vergeblichkeit des eigenen Tuns eingeholt. In der Opposition gilt das noch mal verstärkt. Man fragt sich ständig: Warum machst du das eigentlich alles, es hört doch keiner zu? Und wenn einer zuhört, ändert sich nichts.

Keine meiner Reden im Deutschen Bundestag, und ich habe deren viele gehalten, hat wohl auch nur einen einzigen Menschen dazu gebracht, anders abzustimmen, als es seine Partei vorher festgelegt hatte. Der Einfluss ist ein ganz anderer, wenn man eine Führungsposition bekleidet. Dann ist sogar die Opposition erträglicher.

Ihr Abschied von der FDP war ein frei gewählter. Sie kennen auch die Erfahrung des Rücktritts. Unter Rudolf Scharping waren Sie Bundesgeschäftsführer der SPD – und mussten 1995 gehen.

Da bin ich nicht sicher. Ich fand, ich müsste.

„Eine hinterhältige, anonyme Kampagne“ sei das gewesen, sagten Sie damals, der Sie nicht Herr wurden. Was macht ein Politiker, wenn er merkt, es kommen Pfeile – und sie kommen aus der Dunkelheit?

Das ist das Unangenehmste, was einem überhaupt passieren kann in der Politik. Ich kann dafür keine Regeln aufstellen. Aber je älter man wird, desto stärker entwickelt man ein Sensorium für die ersten Anzeichen. Die Antennen werden im Lauf des Lebens genauer, wenn irgendetwas Unangenehmes droht. Das ist manchmal entscheidend. Wenn die Gefahr schon sehr nahe ist, dann ist es schwierig, noch etwas dagegen zu unternehmen.

Wie ist es um Ihr Sensorium bestellt?

Ich habe heute ein hoch entwickeltes Sensorium. Es wird immer besser.

Antennen entwickeln, das sagt sich leicht. Wie funktioniert das?

Man lernt die Codes. Zum Beispiel Personalspekulationen in den Medien. Zum Decodieren schaut man mindestens so sehr auf das, was nicht gesagt wird, wie auf das, was gesagt wird. Irgendwann können Sie die Codes knacken. Wenn Sie dann den Spiegel lesen, lesen Sie zwischen den Zeilen. Sie wissen, wer was gesagt hat, auch wenn die Quellen verborgen wurden.

Sensorium klingt so feinfühlig. Wird man als Politiker nicht eher härter mit der Zeit, weniger sensibel, und zwar sowohl gegen sich selbst wie gegen andere?

Kann ich für mich nicht bestätigen. Eher im Gegenteil. Ich stelle fest, dass ich mich heute eher erschüttern lasse als früher. Zur Zeit beschäftigen mich zum Beispiel ganz intensiv die Zustände in den staatlichen Kinderheimen in Rumänien.

Aber warum treffen Sie solche Zustände heute stärker als früher?

Tja …, da kommt vieles zusammen. Die Jahre in der SPD haben mich natürlich viel sensibler gemacht für die Probleme der so genannten kleinen Leute. Das war meine zweite Sozialisation.

Wie ging die vonstatten?

Ich komme aus, wie man so sagt, „gutbürgerlichen“ Verhältnissen. Da wusste ich eigentlich ziemlich wenig darüber, wie ein normaler Tag eines normalen Arbeiters aussieht. Das habe ich richtig lernen müssen – und ich habe großen Respekt davor gewonnen, wie die meisten Leute in diesem Land ihr Leben meistern müssen. Die meisten haben nämlich kein leichtes Leben. Dann spricht man nicht mehr so leicht über die Köpfe der Leute hinweg. Und man ist vorsichtiger mit neoliberalen Forderungen von der Gesundheitsversorgung bis zur Rente.

Ihre Erfahrungen mit der Politik hören sich an, als hätten Sie selbst Abstürze leidlich verkraftet. Gab es eine Niederlage, die Sie zunächst aus der Bahn geworfen hat?

Ich bin ein einziges Mal in meinem Leben abgewählt worden. Das war ein richtiger Niederschlag, das kam auch aus dem Dunkeln.

Leuchten Sie mal mit der Taschenlampe rein.

Es war ein Betriebsunfall. Stellen Sie sich vor: SPD-Fraktionsvorstand, es ging um die Riege der Stellvertreter.

Klingt nicht so bedeutend.

Na, es war 1997, und in der Opposition hatten wir so fürchterlich viel mehr Posten gar nicht zu vergeben. Es gab acht Kandidaten für sieben Positionen. Ich war Fraktionsvize mit Zuständigkeit für die Außenpolitik – und diesen Job wollte keiner außer mir. Ich musste also nur im Amt bestätigt werden und hatte keinen Gegenkandidaten – und verlor trotzdem.

Hört sich sehr sozialdemokratisch an.

Alle dachten, bei dem Verheugen ist das kein Problem, der kommt schon durch. Also wurden der Reihe nach die sieben Fraktionsvizes bestimmt. Und am Ende waren alle gewählt, nur ich blieb übrig. Heute weiß ich, das war ein Systemfehler, eine Folge des verrückten Wahlsystems. Aber so nahm ich das zunächst nicht wahr, sondern hielt es für eine persönliche Absage.

Weil ein Politiker automatisch denkt: Eine Niederlage kann kein Zufall sein?

So ist es, jedenfalls wenn Sie nicht eine Sekunde daran gedacht haben. Im einen Augenblick sind Sie noch was, und im nächsten sind Sie es nicht mehr. Das übersteigt die Vorstellung der meisten Politiker.

PATRIK SCHWARZ, 33, ist Inland-Ressortleiter der taz. Er war nie in der Verlegenheit, die Partei zu wechseln, da er nie einer angehört hat