Zeichen der Zeit

Ein Graffiti-Experte erzählt

von GABRIELE GOETTLE

Magister Norbert Siegl, Gründer d. Wiener Graffiti-Archivs, Mitbegründer d. Institutes f. Graffiti-Forschung (IFG). 1958 Einschulung i. d. Volksschule Herzogenburg/Österr., Fotografenlehre i. Linz, Berufstätigkeit als Fotograf. 1978 Gründung des Graffiti-Archivs. 1983 Nachweis d. Hochschulreife u. Studium d. Psychologie a. d. Universität Wien. 1990 Abschluss m. Magister, Diplomarbeit z. Thema „Geschlechtsspezifische Unterschiede bei Toilettengraffiti“. 1990–2002 u. a. 1996 Gründung d. Instituts f. Graffiti-Forschung mit Kunst- u. Literaturwissenschaftlerin Susanne Schaefer-Wiery. 1998 Gründung d. Graffiti-Edition, u. a. mit d. Periodikum „Graffiti-News“. 2002 Erstellung einer „Graffiti-Enzyklopädie“ u. eines „Graffiti-Readers“. Seit 2003 öffentlich angestellter Patientenanwalt in der Psychiatrischen Klinik Steinhof, auf der Baumgartnerhöhe i. Wien (zum Broterwerb u. aus Überzeugung). Arbeitsschwerpunkte i. d. Graffiti-Forschung: Weiterer Ausbau d. internationalen Zusammenarbeit u. Vernetzung, ständige Erweiterung u. Aktualisierung d. Website des Institutes f. Graffiti-Forschung ( graffiti.netbase.org ). Publikationen u. a. „Kulturphänomen Graffiti. Ein internationaler Vergleich“. Wien, 1999, Graffiti-News Nr. 7; „Die Themen der Graffiti-Forschung“. Wien, 2001, Graffiti-News Nr. 8; „Das Wiener Graffiti-Archiv. Material zur Faschismusforschung“. (Hg.), Wien 2002, Graffiti-News Nr. 11, 12, 13; „Der Graffiti-Reader“ (Hg. mit Susanne Schaefer Wiery), Wien 2002, Graffiti-News Nr. 20. Norbert Siegl wurde 1952 als Sohn eines Chemiearbeiters geboren, seine Mutter war Bankangestellte, er ist geschieden und hat einen Sohn.

Herr Siegl residiert mit seinem Institut für Graffiti-Forschung im 14. Bezirk in Wien. Penzing ist hier vorwiegend kleinbürgerlich-proletarisch, in den meist schmucklos sanierten Mietshäusern aus der 1. und 2. Gründerzeit leben neben alten Leuten und vielen in die Jahre gekommenen ehemaligen Studenten, auch neue Arbeitsemigranten aus Osteuropa, sowie lange schon in Wien beheimatete türkische Familien. Trotz dieser Mischung findet man beim zufälligen Herumspazieren erstaunlich wenig Graffiti an den Wänden. Was geradezu maßvoll zu sehen ist, sind die andernorts inflationär hinterlassenen, mehr oder weniger schwungvollen Stilübungen, die pubertierende schreibwütige Knaben mit ihren „Permanent-Markern“ überall hinkritzeln, an jede Hauswand, Telefonzelle, in jedes öffentliche Verkehrsmittel, überall in der ganzen Stadt. Ich mag sie nicht, diese dürren, kleinen, schwarzen, zackig gemeinten Kürzel, die unentzifferbaren Logos, die sich kraftmeierisch und wichtigtuerisch überall ins Auge drängen. Und ich mag sie selbst dann nicht, wenn ich mir vergegenwärtige, dass der so genannte öffentliche Raum randvoll ist mit unerwünschten Botschaften, dass der visuelle Terror den Bürger, per vorschriftsmäßig vermieteter Werbe- und Reklamefläche, ganz legal anfallen darf, verfolgen darf, auf Schritt und Tritt. Auch akustisch, bis hinein ins ehemals stille Örtchen. Allerdings ist mir, vor die Wahl gestellt, eine über und über voll gekritzelte Toilette entschieden lieber als eine mit Werbung. Und vielleicht muss ja das Subversive nicht immer ästhetisch zufrieden stellen. Tatsache jedenfalls scheint zu sein, dass es sich um Akte der Notwehr handelt, wenn die Tätowierung der Körper und die Tätowierung der Stadtlandschaften mit Zeichen, Bildern und Symbolen explosionsartig zunimmt. Wenn das, was ehemals Ausdrucksmittel von Gefängnisinsassen war, Selbstverstümmelung und das Beritzen der Zellenwand, nun von der unbescholtenen Bevölkerung praktiziert wird. Als soziales Design ist es unübersehbar.

Norbert Siegl wohnt im letzten Stockwerk. Die Treppenstufen sind, wie es typisch ist für fast alle alten Wiener Häuser, breit und flach angelegt. Sie sind aus jenem glatten, hellen Sandstein, den man auch für Lithografien verwendet. Zahllose Füße längst verstorbener Bewohner haben mitgeholfen, eine bequeme, leichte Mittelrinne in den Stein zu schleifen. Im Nu ist man oben. Wir werden von einem stark melancholischen, relativ frisch verlassenen Herrn Siegl durch die kleine Küche hindurch ins Arbeitszimmer geführt. Unser Gastgeber bringt Kaffee und dreht sich bedächtig eine Zigarette:

„Das Archiv besteht seit 1978 etwa, und es war die erste und umfangreichste transnationale Graffiti-Sammlung. Thematisch reicht das von historischen Graffiti über solche zu RAF, Antifa, Autonomen, Feminismus, Sexualität, Drogen, Bullen, Tierschutz, Antiatom, Neonaziszene und Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus usw., bis hin zur deutschen Wiedervereinigung, Antikriegsthemen – und natürlich die Writer-Kultur, American Graffiti, also das, was eigentlich so Graffiti genannt wird … Mein Graffiti-Begriff geht aber weit darüber hinaus und umfasst alle nicht legal angebrachten Botschaften und Zeichen. Die Okkupation des Graffiti-Begriffs ist ja erst durch die Sprayerszene bei uns erfolgt bzw. wurde übernommen von den verfolgenden Behörden und Medien. Na ja, und das Archivmaterial habe ich dann gegliedert in drei Hauptbereiche, kann man sagen: Transkripte, Fotomaterial von Inside- und Ouside-Graffiti und Fachliteratur bzw. Pressedokumentation. Das Archiv ist ein Privatarchiv. Früher gab’s gelegentlich auch mal projektbezogene öffentliche Mittel, heute, unter dem allgemeinen Sparzwang, ist daran gar nicht mehr zu denken. Im Einzelfall können nach Vorabsprache Archivmaterial für Forschungszwecke, Berichterstattung oder Ausstellungen zugänglich gemacht werden, aber ich bin als Einzelperson eigentlich nun nicht mehr in der Lage, da jemanden wissenschaftlich zu betreuen für eine Arbeit oder sonstwie mit Material zu versorgen, so wie wir das früher noch gemacht haben. Deshalb wird die ständige Aufarbeitung der Daten – in Zusammenarbeit mit dem Berliner und Frankfurter Graffiti-Archiv – für die ‚Online-Enzyklopädie der Graffiti-Forschung‘ von uns aktuell weitergeführt.

Wenn Sie mich so fragen, wie ich dazu gekommen bin … Also, ich bin eigentlich ursprünglich Fotograf und habe damals mit diesen Klo-Graffiti angefangen, also auf den Aborten fotografiert. Und ich bin über diese Beschäftigung damit dann auch zur Psychologie gekommen … Ich habe eine klassische Fotografenausbildung gemacht, also Dunkelkammer, mit speziellen Entwicklern, Nachbelichten, Handauflegen, Anhauchen, damit das Papier sich an dieser Stelle schneller entwickelt, mit all den kleinen Tricks. Das war ja noch die Zeit der Schwarzweißfotografie, Farbfotos waren damals noch sauteuer. Heute ist es ja umgekehrt. Gut, also in den 70er-Jahren, ich war ja immer ein sehr interessierter Mensch, hat mich das sehr fasziniert, was da an den Wänden zu finden ist und neu auftauchte. Es gab ja auch noch Originalsachen aus der Nachkriegszeit oder sogar noch frühere, und dann eben das Zeitgenössische, also Rote Armee Fraktion etwa in Berlin. Das war sehr weit verbreitet, auch in Wien. Man kann in Berlin sogar heute noch Reste finden wahrscheinlich. Ich habe 1995 noch ‚Freiheit für Mahler‘ fotografiert, da wusste wahrscheinlich kaum noch jemand etwas mit anzufangen.“ Alle lachen. „Ich habe damals viel in Westdeutschland fotografiert, auch auf Raststättenklos der Autobahn und natürlich in Berlin, meist im Westteil, zum Beispiel in den Klos der FU. Mit Pentax, Stativ und Drahtauslöser und mit teilweise Belichtungszeiten von fünf Sekunden habe ich da gearbeitet. Schwarzweiß. In der Dunkelkammer habe ich teilweise noch stark vergrößert.

Das war natürlich nicht so nebenbei gemacht, sondern schon sehr systematisch. Meine damalige Ehefrau hat dabei mitgearbeitet zum Glück, denn mit den Frauenklos war das ja nicht so einfach. Sie hat da vermittelt. Die große Unbekannte war, was schreiben die Frauen aufs Klo im Vergleich zu den Männern? Schwulenklos habe ich natürlich auch fotografiert. 1973, glaube ich, wurde ja erst die Strafbarkeit homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen gestrichen in Deutschland. Ich erinnere mich noch, in der U-Bahn-Station von diesem Nazi-Stadion, dem Olympia-Stadion, da gab es ein Klo, das war eine klassische ‚Klappe‘ und von oben bis unten voll mit Graffiti.

Ich habe mich also damals ganz auf Klograffiti konzentriert und auch versucht, das irgendwie in eine Ordnung zu bringen und auszuwerten. Nur so aus Interesse erst mal. Damals gab es in Österreich einen bekannten Sexualwissenschaftler, den Ernest Bornemann. Er war übrigens ursprünglich Deutscher, hatte in England Sozialanthropologie und Sexualwissenschaften studiert in den 30er-Jahren, und nach Kriegsausbruch wurde ihm dann die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wegen Wehrdienstverweigerung. 1995, glaube ich, hat er sich umgebracht … In den 80er-Jahren jedenfalls bin ich irgendwie mit ihm in Kontakt gekommen. Jemand hatte mir den Tipp gegeben. Ich habe einfach angerufen, und er war bereit, mich zu treffen. Er war wirklich sehr freundlich, und es gab dann auch Pläne für eine gemeinsame Publikation – also, er hätte die Interpretation gemacht und ich hätte mein Material beigesteuert. Das hat sich dann allerdings doch nicht ergeben. Er hat mir aber was Entscheidendes gesagt: Herr Siegl, studieren Sie Psychologie, da erwerben Sie sich dann einfach selbst die Auswertungskompetenz, die wissenschaftliche. Ich hab ja keine Matura gehabt, das war das Problem, es gab aber damals in Österreich so eine spezielle Form der Hochschulreife, die Berufsreifeprüfung. Und wenn einem ein Wissenschaftler bestätigte, dass man irgendetwas von wissenschaftlichem Wert bereits geleistet hat, dann konnte man aufgrund dessen studieren, auch ohne Matura. Und der Bornemann hat mir aufgrund meiner Toilettengraffiti-Studie diese Bestätigung gegeben.

Meine Ehe hat sich damals gerade aufgelöst, eine Weile, zehn Jahre etwa, war ich Alleinerzieher meines Sohnes und hatte relativ viel Zeit zum Studieren, also habe ich es einfach gemacht. Beendet habe ich es dann mit einer Diplomarbeit, ganz klassisch, zum Thema Klograffiti. Ein Vergleich, Männer, Frauen … quantitativ, mit Statistik, Signifikanzprüfung usw. … relativ langweilig, ja … trotzdem sind durchaus interessante Ergebnisse zustande gekommen. Also beispielsweise unterscheiden sich die Kommunkationsstile ganz auffallend, Frauen gehen eher aufeinander ein in den Sprüchen, schreiben länger, bei den Männern ist es meist kurz, prägnant, teilweise gereimt, manchmal witzig, größtenteils aber aggressiv, direkt aufs Ziel gehend. Nazi gegen Sozi, Krieg an der Klowand und natürlich Sex. Bei den Frauen hat die Politik am Klo offenbar keine so große Rolle gespielt, Sexualität sehr wohl, aber eher problematisierend, auch in Form von Ratschlägen, zur Verhütung, Abtreibung, zu Beziehungsproblemen usw.

Ich war dann später, wie die Hysterie wegen den Sprayern ausgebrochen ist, sehr froh, dass ich das Thema sozusagen akademisch abgesichert hatte. Trotzdem bin ich verdächtigt worden, ‚Sachbeschädigung‘ zu propagieren. Das war so 93/94, da wollte der Polizeiapparat unbedingt der Öffentlichkeit ein neues Täterbild präsentieren durch Kriminalisierung der Sprayer und drastische Strafverfolgung. 1994 gab’s in Wien die erste große Verhaftungswelle – und die war international koordiniert. Eine richtige Hexenjagd. Angefangen hatte es ja schon mit Naegeli, dem Sprayer von Zürich, Ende der 70er-Jahre. Heute ist er auch schon über 60. Damals liefen gegen ihn bzw. gegen ‚Unbekannt‘ hunderte von Anzeigen ein, Kopfprämien wurden ausgesetzt. Es gab heftige Debatten, nachdem er aus der Schweiz geflohen war und plötzlich anderswo seine Graffiti auftauchten. Und es haben sich damals in Deutschland SPD-Prominente wie Klaus Staeck und sogar Willy Brandt hinter Naegeli gestellt. Trotzdem hat man ihn nach seiner Rückkehr in die Schweiz ein halbes Jahr ins Gefängnis geworfen. Es wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen, bis heute.

Und hier mit dem Graffiti-Archiv ging es dann so weiter, dass ich 1996 mit der Frau, mit der ich bis vor kurzem zusammen war, der Kunsthistorikerin Susanne Schaefer-Wierys, das ‚Institut für Graffiti-Forschung‘ gegründet habe. Sie ist immer noch Vorsitzende vom IFG. Zwangsläufig ist das momentan aber eher ein Verein, der nur auf dem Papier agiert. Allerdings ist das IFG im Internet präsent. Inzwischen ist es ja als wissenschaftlicher Verein die Dachorganisation für andere wissenschaftlich orientierte Archive und Vereine. Die Vernetzung mit internationalen Experten haben wir schon Anfang der 90er-Jahre begonnen. Besonders eng ist die Zusammenarbeit mit dem Berliner Graffiti-Archiv von Frau Mensah Schramm. Sie ist Sonderschullehrerin und eine sehr couragierte Frau, die auf eigene Kosten systematisch neonazistische und fremdenfeindliche Graffiti entfernt. Vorher fotografiert sie die Tatorte, und so ist eine sehr umfangreiche Dokumentation zustande gekommen, die viel auf Wanderausstellungen und in Schulen usw. gezeigt wird. 1994/95 habe ich mit Frau Schramm viele Forschungsreisen durch Berlin unternommen. Sehr wichtig ist natürlich auch die Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Graffiti-Archiv von Saul Len, das mehr als 10.000 Dokumente umfasst und das umfangreichste Archiv im Rhein-Main-Raum ist. Er hat sehr viel Material aus der frühen Zeit, Apo-Zeit, RAF usw. bis hin zum aktuellen Stand.

Sehr interessant ist auch die Zusammenarbeit mit Roger Avau in Brüssel, er hat eine enorm umfangreiche Sammlung ausschließlich von Schablonen-Graffiti. Sie alle schicken mir Sachen zu – die Dokumentationsform ist natürlich immer das Foto – und so vergrößert sich das Internet-Archiv immer mehr. Und durch diesen Zusammenschluss mit den anderen Archiven kann man natürlich auch die ‚Epochenbrüche‘ sehr schön sehen, was ja in den Einzelsammlungen, die meistens irgendeinem Schwerpunkt folgen, nicht so gut geht. Auf diese Art wurden dann auch internationale Vergleiche besser möglich.

Da kommt viel zusammen. Ich alleine habe schon 25.000 Dias und auch Schwarz-Weiß-Negativ-Filme … international sind wir eine der größten Datenbanken auf diesem Gebiet. Also, es läuft immer weiter, und ich baue es möglichst aus – soweit es meine Zeit erlaubt. Und aufgrund dieser Vernetzung mit internationalen Experten haben wir dann Anfang der 90er – da kam ja die Sprayer-Kultur dazu – den Auftrag vom österreichischen Wissenschaftsministerium zu dieser Vergleichsstudie, einer Dokumentation über das ‚Kulturphänomen Graffiti‘, bekommen.

Das war so eine Dimension bis 120.000 Mark, das Projekt, und war natürlich eine willkommene Förderung. Entstanden ist dann eine 555 Seiten dicke Dokumentation mit 1.446 Fotos. Es war ein Kompendium von ungefähr 9.000 Bildeinheiten, die bei der Arbeit entstanden sind. Explizit war’s eine Vergleichsstudie zwischen den Städten Wien und Berlin, und es war damals die umfangreichste Studie, die in Europa existierte. In Berlin gab es damals natürlich sehr viele Graffiti zur Deutschen Wiedervereinigung, das berühmteste war wohl: ‚Lasst euch nicht BRDigen!‘. Und dann gab es natürlich sehr viele Sachen von rechts, die auch stark transportiert worden sind durch die neue rechte Musik, eigene Bands usw., durch die Hooligan- und Skinheadbewegung. Und natürlich durch die massive Zulieferung von Vorlagen aller Art durch die NSDAP/AO, die irgendwo in Amerika ihren Sitz hat, ganz legal. Vorher waren es ja eher nur die ‚Ewiggestrigen‘, die diesbezüglich in Erscheinung getreten sind, die Übriggebliebenen. Diese Runenschriften sind ja überall in verschiedenen Zusammenhängen aufgetaucht damals. Es gab eine richtige Freude darüber, mit dieser „Runeneleganz“ was hinzuschmieren, rechts oder links! Die SS-Rune, die so genannte Sieg-Rune, die haben schon die Autonomen in dem überall verbreiteten Hass-Graffiti verwendet, an Stelle vom Doppel-S.“ Er schaut nach im Computer, „blättert“ im Archiv und zeigt mehrere Beispiele: „… Hier ist eins aus Innsbruck. Das hat schon so Mitte, Ende der 80er-Jahre angefangen, bei euch in Deutschland. Die autonome Szene hat angefangen mit diesen verbotenen Sachen zu ‚spielen‘, so eine Art ‚Fascho-Chic‘ hat sich da entwickelt mit Bomberjacken und Springerstiefeln, Red-Skins. Und die Naziszene hat das dann okkupiert, die Punks und Autonomen standen in der rechten Ecke rum und wussten nicht wie, da gab’s die ganzen Selbstbezichtigungs- und Verteidigungsartikel usw. Na ja, diese Studie jedenfalls hat das alles umfasst, auch die anderen Themenbereiche, Drogen, Anti-AKW, Schule, Geschlechterbeziehung, Grüße von Verliebten, Drohungen …

Den ganzen Bereich der Sprayer-Kultur habe ich eigenständig behandelt, also das, was so ‚American Graffiti‘ genannt wird, mit den ganzen ‚Tags‘, die eine Rohform sozusagen des ‚Writing‘ sind. Bei dem geht es ja darum, den Decknamen oder das Logo möglichst individuell, unverwechselbar zu sprayen, eben seinen ‚Style‘ zu finden. Und die guten Writer fügen dann auch noch ihre ‚Characters‘ hinzu, also figurative Elemente. Oder sie malen gleich ein so genanntes ‚Piece‘, das ist ein aufwändiges großes Bild, farbig natürlich, mit anderen Elementen gemischt, wie Style, Character oder auch einer Message irgendeiner Botschaft.

Meist gibt es aber keine über das pure Vorhandensein hinausgehende Botschaft oder eben eine, die nur für die Szene zu entschlüsseln ist. Diese Form der Sprayerkultur – und deshalb habe ich sie eigenständig behandelt – hat sich nicht aus der Tradition der linken und autonomen europäischen Graffiti entwickelt, sondern ist reine importierte Ghettokultur bis hinein in die Motive und den Fachjargon.

Die Spraydosen heißen ‚Bomben‘ oder ‚Cans‘, die Sprühköpfe ‚Caps‘ usw. Begonnen hat das in den Schwarzenghettos in Amerika schon Ende der 60er-Jahre, ursprünglich waren das territoriale Markierungen rivalisierender Gangs, das hat sich dann irgendwann abgelöst und verselbstständigt, auch ästhetisch. Die New York Times hat 1972 diese Graffiti-Kultur der Bronx zum ersten Mal offiziell ans Licht der Öffentlichkeit gehoben, als authentisches Produkt der Subkultur. Werke der frühen schwarzen Sprayer wie Basquiat sind heute in so berühmten Museen zu sehen wie im Guggenheim-Museum in NY. Und bei uns hat es sich dann explosionsartig ausgebreitet in den 80er- und 90er-Jahren. Zuerst mit dem klassischen Edding-Stift, man könnte das die Edding-Kultur nennen, und natürlich im Gefolge der HipHop-Welle – die Anfang der 80er-Jahre in der Bronx, glaube ich, entstanden ist. Eine Mischung verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen, die man experimentell entwickelt hatte, wie Breakdance, Graffiti, dem Sprechgesang Rap und DJing, dem virtuosen Auflegen von Platten und sozusagen Zusammenstellen von neuen Kompositionen und Rhythmen, also das, was heute hier jeder Diskjockey halbwegs beherrschen muss.

Das ist also, grob gesagt, die Tradition. Und der Geist von Graffiti generell ist eigentlich der der anarchistischen Provokation, insbesondere gegen das herrschende Ordnungsgefüge, ein illegaler vandalistischer Akt – wenn auch ins Ästhetische gewendet. Dass sich aber Teile der Graffiti-Bewegung von der Grundlage wegbegeben, ins Atelier sozusagen gehen oder ins Werbestudio oder auch auf die so genannte ‚Wall of Fame‘, die von der Stadt freigegebene Wand zum Sprayen für die Braven, das ist dann eigentlich schon nicht mehr Graffiti zu nennen. Manche produzieren da Gemälde, die könnte man genauso mit der Airbrush-Technik machen statt mit der Spraydose, wo es ja rein um den Kult der Sprühköpfe geht. Und welche, die dünner sprühen oder einen breiten starken Strahl haben usw., es gibt Lieblingsmarken zum Auswechseln. Früher haben die Sprayer selbst Löcher reingebohrt.

Das Interessante ist eben am Graffito nicht das Foto, das viele Sprayer von ihren Arbeiten machen, nicht die reproduzierte oder im Internet zu betrachtende Wiedergabe, sondern dass es, heimlich sozusagen, auf öffentliche Flächen gemalt wird. Entweder auf eine Fläche, die sich durch die Stadt bewegt, also ein öffentliches Verkehrsmittel, oder auf Wände, Bauzäune, Brücken, Unterführungen. Wichtig ist nur eins, dass es so viel wie möglich Leute sehen. Die Galerie liegt am alltäglichen Weg der Passantenströme. Sie sind das zufällige Publikum und die Betrachter einer verderblichen, womöglich schnell wieder für immer verschwindenden Erscheinung. Das wird gar nicht erst zur Ware. Also so eine noch so schön bemalte Betonwand, die ist nicht marktkompatibel. Die bleibt ein unverrückbares Original, bis zur Säuberung, ohne Urheberrechte. Die Autorenschaft ist rein ideell.

Das ist das Interessante dran, denn kaum was entzieht sich ja dem Markt. Dennoch ist es natürlich auch so, dass zwar das Werk nicht auf den Markt kommt, dafür aber hat sich der Markt mit einer riesigen Equipementpalette auf die Sprayerszene und auf Graffiti gewälzt. Die einschlägigen Firmen machen Riesengewinne mit Graffiti-Beseitigung und Anti-Graffiti-Beschichtungen. Ebenso die ‚Permanent-Marker‘ und Farbdosenerzeuger, die Mode- und Musikindustrie, Gummihandschuhhersteller … bis hin zu den Sonderkommandos der Polizei, den Sokos, die man damals gegründet hat und die damit ihr Brot verdienen, dass sie die Sprayer wie eine Gruppe von gefährlichen Kriminellen verfolgen. Die werden der Justiz ausgeliefert, wo teils drastische Schadenersatzforderungen – bis zu 100.000 Mark ging das schon – verhängt werden.

Das Sprayen ist gefährlich, sogar für mich, obwohl ich gar nicht spraye. Das letzte Mal in Berlin wäre ich fast von eurem Bundeskanzler überfahren worden. Ich wollte in die Unterführung zur Siegessäule und dort Graffiti fotografieren, wollte bei Grün die Straße überqueren, und da ist der Konvoi des Kanzlers angebraust gekommen, hinten und vorn Polizeifahrzeuge, und ohne Rücksucht bei Rot durchgefahren. Also, ich habe richtiggehend zurückspringen müssen auf den Bürgersteig!

Was ich noch vergessen habe zu erzählen, ist, dass wir 1997 den ersten internationalen Graffiti-Kongress in Wien veranstaltet haben, und zwar an der Hochschule für Angewandte Kunst – so hieß sie damals noch –, wo der Peter Gorsen seinen Lehrstuhl hatte. Er hat sich sehr stark engagiert, war sehr interessiert. Er ist ja Kunst- und Kulturhistoriker, hat bei Adorno und Habermas studiert und promoviert und sich viel mit Außenseitersachen beschäftigt. Ich kannte ihn schon aus den 70er-Jahren, damals hat der Bornemann einen Sexualwissenschaftlichen Kongress veranstaltet, bei dem ich auch ehrenvollerweise mit meinen Klograffiti eingeladen war, und diesen Kongress hat der Peter Gorsen sozusagen organisiert. Aus dieser Zeit kannte ich ihn.

Und irgendwann hat er dann erfahren, dass ich diese Studie fürs Wissenschaftsministerium gemacht habe. Ich habe ihn dann besucht in der Hochschule – inzwischen, ich glaube, seit 2002, ist er ja emeritiert – und da hat er mir das Angebot gemacht, dass wir so einen Kongress gemeinsam organisieren. Er hat also die Räume besorgt, die Einladungen und Aussendungen veranlasst, und wir haben versucht, von diversen Stellen Gelder zu bekommen für die Reisekosten und Unterbringung der Gäste usw. Und so kam es zu diesem Kongress über ‚das Kulturphänomen Graffiti‘.“ Er dreht sich, ohne hinzusehen, eine Zigarette, während er weitererzählt. „Peter Gorsen hat den Einführungsvortrag gehalten zum Thema ‚Graffiti und Art Brut‘, über urbane Kunstformen zwischen Rebellion und Anpassung, so ähnlich … und wir hatten eine Menge interessanter Vorträge und Gäste, unter anderem auch eine frühere Sprayerin, Bady Minck, sie war wahrscheinlich die erste weibliche Sprayerin Wiens. In den 80er-Jahren hatte ich Sachen von ihr fotografiert, da sind in Wien ihre seltsamen Figuren aufgetaucht, so ähnlich wie die von Naegeli. Und so Anfang 90 haben wir eine Ausstellung gemacht, bei der auch einige ihrer Sachen waren. Da hat sie sich gemeldet und sich zu erkennen gegeben. Ich habe das natürlich überprüft, aber die Ortsangaben stimmten und alles. Dann habe ich sie zum Kongress eingeladen. Sie kam und hat einen schönen Vortrag gehalten über ihre ‚Untaten‘. Sie hat auch auf was Interessantes hingewiesen, sie sagte, wenn sie sich jetzt zurückerinnert, dann fällt ihr auf, dass die Tatorte fast immer solche Orte waren, an denen sich die städtebaulichen Schwächen am meisten manifestiert haben, sie nannte das ‚die Wunden der Stadt‘, die sie mit ihren Spraydosen vielleicht gar nicht so sehr verschönert, sondern eher gekennzeichnet hat. Abgestorbene Stadtlandschaft, Parkgaragen, tote Giebel, wuchtige Brückenpfeiler, abweisende Mauerstreifen, Fußgängerunterführungen, elende, lange, stupide Fassaden, das ganze hässliche, menschenunwürdige, lieblose Ambiente hat sie niedergesprüht. Aber eben aus der Haltung einer Außenseiterin auch heraus, einer einzelnen Frau. Das ist ja vielleicht noch mal etwas anders als in einer Szene, die weitgehend aus 12- bis 18-jährigen Jugendlichen männlichen Geschlechts besteht.

Na ja, so hat sich das alles entwickelt mit dem IFG … die Internetgeschichte werde ich in jedem Fall fortsetzen – wir haben eine hohe Frequenz, es sind so um die 600 bis 700 Zugriffe täglich, bei Google auf den deutschen Seiten, da sind wir relativ hoch gereiht, an erster Stelle, an zweiter usw. Aber viele kommen auch nur zufällig auf unsere Seite. Junge Sprayer, die sind eher enttäuscht, die interessieren sich für die Szene-News und nicht für die Zusammenhänge in der Regel. Allerdings kommen auch Mails herein aus der Sprayerszene, die das Gegenteil beweisen. Ansonsten bin ich jetzt ja als angestellter Psychologe in einer psychiatrischen Klinik gelandet, ich muss von irgendwas leben. Die Arbeit mache ich aber sehr gern. Patientenanwalt ist eine Tätigkeit, die ist eingerichtet worden, um die Interessen der Patienten zu schützen und die Ärzte zu kontrollieren, dass sie niemanden dort verschwinden lassen können ohne hinreichenden Grund, wie es früher oft war. Das ist also meine Aufgabe, ich bin eine Art Kontrollorgan im Interesse der Patienten. Die Tätigkeit wurde offiziell vom österreichischen Justizministerium eingerichtet, 1991, glaube ich. Am Steinhof sind wir acht Patientenanwälte, die meisten meiner Kollegen sind allerdings Juristen.

Meine Zeit fürs IFG ist dadurch natürlich ziemlich eingeschränkt, zudem nach der Trennung von meiner damaligen Lebensgefährtin war das Ganze etwas am Versiegen, ich habe, nachdem sie weg war, einfach nicht mehr den richtigen Biss gehabt … wie das eben so ist … also ich bin froh, ehrlich gesagt, dass ich jetzt wieder arbeiten kann – am Steinhof und hier zu Hause.“

Nachtrag aus aktuellem Anlass: Protectosil® Antigraffiti ist eine Langzeitschutzimprägnierung der Degussa AG (Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt). Die Degussa hat den Auftrag, 27.000 Betonstelen mit ihrem Antigraffitiprodukt zu versehen. Es sind die Stelen des großen zentralen Mahnmals, das dem Gedenken der ermordeten Juden gewidmet ist, auch jener Juden, die mit Giftgas aus „dem Hause“ Degussa ums Leben gebracht wurden, und jener Juden, deren Zahngold sie eingeschmolzen und zu Barren gegossen hat.