Modell Argentinien

Wie viele Theater übt sich auch das Berliner „Hebbel am Ufer“ in politischer Kultur. Am Wochenende wagten in den „Räumen zum Verlassen der Übersicht“ Kulturarbeiter „eine künstlerische Untersuchung zur Wirtschaftskrise in Argentinien“

VON DETLEF KUHLBRODT

Seit einigen Wochen hängen in Berlin großformatige Plakate, auf denen junge BoxerInnen im weißen Turnhemd zu sehen sind. Die Gesichter sind ramponiert, die Arme hängen nieder, schutzlos und stolz wie schöne Verlierer schauen sie den Betrachter an. Man denkt an diesen wunderbaren Laurel-&-Hardy- Stummfilm, in dem Stan gegen einen übermächtigen Gegner boxte und dabei eine tänzelnde Schrittfolge erfand, die später auch von Sid Vicious (oder war’s Johnny Rotten?) übernommen wurde. Unter den Plakaten steht „HAU Eins“, „HAU Zwei“ oder „HAU Drei“, und irgendwann findet man heraus, dass mit „HAU Eins“, „HAU Zwei“ oder „HAU Drei“ die drei Spielstätten des altehrwürdigen Hebbel-Theaters gemeint sind (Hebbel am Ufer Eins, Zwei, Drei). Das Haus ist so nach langen Jahren zwar ambitionierter, aber doch irgendwie im Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit stattfindender Produktionen in die Offensive gegangen. Sein neuer Intendant, Matthias Lilienthal, versucht, es linksexistenzialistisch, aber im klaren Bewusstsein des Scheiterns vergangener Konzepte zu präsentieren. Diese Positionierung wird nicht gegen andere Häuser unternommen. Christoph Schlingensief, einer der Hausregisseure der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, war an dem ersten Projekt der Hebbel-Häuser am Ufer beteiligt. Die Erfolgschancen des HAU stehen wohl ganz gut in Kreuzberg, das nach ein paar Jahren der Stagnation ein Comeback erlebt.

Die angeschlagenen Boxer passten dann gut zur Wochenendveranstaltung „Räume zum Verlassen der Übersicht“, bei der es um „eine künstlerische Untersuchung zur Wirtschaftskrise in Argentinien“ ging. Verschiedene politkünstlerische Gruppen aus Argentinien stellten ihre Arbeit vor, es gab Vorträge und Filme. An zwei Nachmittagen wurde das Gesehene und Gehörte in vier Workshops vertieft, denn „wir sind skeptisch gegenüber den Podien, auf denen Talking Heads sitzen, die sich an eine imaginäre Öffentlichkeit richten, sich aber untereinander kaum meinen, weil die Veranstaltung etwas von einem Turnier hat, also eine Vorführung ist von freiem Meinungsaustausch“, wie es im Programmheft hieß. Zunächst war man der Veranstaltung mit einer gewissen Skepsis begegnet. Das plötzliche Interesse, das man nicht nur hierzulande dem bankrotten Land entgegenbringt, hatte misstrauisch gestimmt, und dass Argentinien in Teilen der Linken (Naomi Klein etwa) plötzlich als Land der Hoffnung gilt, scheint auch Projektion zu sein. Die Gefahr, zum Teil einer Mode zu werden, ist den Veranstaltern, die ein Vierteljahr in Buenos Aires recherchiert hatten, auch klar; das Misstrauen gegenüber dem eigenen Interesse war aber auch Teil ihres Interesses.

So hatten sie Diedrich Diederichsen eingeladen, der über die Geschichte der Neuen Linken in Deutschland sprach und den vergessenen Begriff der „Internationalen Solidarität“ – vor 89 noch auf jeder linken Demonstration zu hören, und ging es auch nur um Fahrpreiserhöhungen – wieder heraufbeschwor. In der Tradition der kritischen Theorie kritisierte Diederichsen Teile der Post-68er-Linken und warf ihnen mangelnde Empathie vor und dass sie sich fürs eigene Land nicht interessiert, stattdessen mit den Befreiungsbewegungen anderer Länder – Nicaragua, Kuba, Vietnam – identifiziert hätten; dass sie zwischen sympathischen und unsympathischen Opfern unterschieden hätten. Zum Schluss seines Vortrags spielte er eine Technoversion des Brecht’schen Solidaritätsliedes. Am nächsten Tag fuhr der nachdenkliche Professor nach Mexiko, um dort Vorträge zu halten.

Anschließend formulierten Sebastián Scolnik und Fabio Romanella von der militanten Forschungsgruppe „Colectivo Situaciones“ Statements zum Begriff der Negation, die von Deleuze beeinflusst schienen und somit eher schwerig zu verstehen waren, berichteten Vertreter der „Grupo de Arte Callejero“ über ganz konkrete Aktionen. Die 1997 gegründete Gruppe, die auch zur Biennale eingeladen worden war, ist Teil der aktuellen sozialen Bewegungen und entwirft im öffentlichen Raum von Buenos Aires Verkehrszeichen, Plakate und verfremdete Logos, die konkret vor Ort die spezifische Repression kennzeichnen und zugleich eine autonome Kartografie bilden. Interventionistisch gestalten sich die Aktivitäten der Gruppe „etcetera“, die sich an so genannten „escraches“ beteiligte. Dabei ging es darum, die Kollaborateure der Militärdiktatur – Ärzte etwa, die sich an Folterungen beteiligt hatten – zu denunzieren; ihre Wohnorte mit Farbbeuteln und Plakaten kenntlich zu machen. Mit actionreichen Performances und Theateraktionen hatten die einen die Polizei abgelenkt, während die anderen Farbbeutel schmissen. Hintergrund dieser Aktionen war eine 1990 unter Menem erlassene Generalamnestie für die, die sich an Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 beteiligt hatten. In dieser Zeit waren an die 30.000 Menschen umgebracht worden oder spurlos verschwunden. Im August dieses Jahres wurden die Amnestiegesetze wieder aufgehoben. Diskussionen über die Aktionen gestalteten sich zäh, weil es in Deutschland nichts Ähnliches gegeben hatte, vergleichbare Aktionen (Beate Klarsfeld bis Dieter Kunzelmann) das Werk von Einzelnen waren oder schwieriger – wie die Denunziation von Stasi-IMs, die Veröffentlichung konspirativer Wohnungen in der taz Anfang der 90er – zu diskutieren gewesen wären.

Teilweise liefen die Beiträge, Vorträge, Berichte aus Deutschland und Argentinien nebeneinander her, weil die Situationen so unterschiedlich sind; manches, etwa die politischen Kunstbewegungen Ende der 60er, von denen Graciela Carnevale berichtete, schien ähnlich, manchmal, wenn es um die Folgen der Deindustrialisierung ging, also Massenarbeitslosigkeit, wirkte die argentinische wie eine Satire auf hiesige Verhältnisse. Ausführlich analysierte Guillaume Paoli, Mitbegründer der „Glücklichen Arbeitslosen“, eine tägliche argentinische Fernsehshow, bei der die Teilnehmer einen Arbeitsplatz gewinnen können. Die Zuschauer entscheiden dabei wie bei „Big Brother“ nach Sympathie und gekonnter Selbstpräsentation. Diese TV-Show ist gewiss einer der „Räume zum Verlassen der Übersicht“, die eine Art Vorwort zur Ausstellung „Ex-Argentina“ im Kölner Museum Ludwig zu sein schien, die im März kommenden Jahres stattfinden soll.