Analogie des Gefühls

„Rineke Dijkstra. Paula Modersohn-Becker. Porträts“ – so lautet der programmatische Titel einer Ausstellung in Bremen: Die Ähnlichkeiten zwischen den Oeuvres sind unsichtbar, aber frappierend

von BENNO SCHIRRMEISTER

Nicht die Suche nach den Ähnlichkeiten bringt Rineke Dijkstra in Verlegenheit. Denn die scheinen überdeutlich. Welche Unterschiede sie denn sehe zwischen ihren großen Lichtbildern und den Gemälden Paula Modersohn-Beckers, ist die Fotografin gefragt worden. Und sie zögert und überlegt. Und findet keine Antwort – trotz des ganz anderen Mediums, hier Ölfarbe auf Leinwand – dort Fotoabzüge, hier Pinsel – dort Plattenkamera. Anlass der Frage war die Vernissage einer lapidar-programmatisch „Rineke Dijkstra. Paula Modersohn-Becker. Porträts“ betitelten Ausstellung. Die macht in der Tat nichts anderes, als Porträts der beiden Künstlerinnen gegenüberzustellen. Der Ort: das kleine der Malerin gewidmete Museum in Bremen.

Die größte Distanz ist die zeitliche: Rund 100 Jahre trennen die beiden Künstlerinnen. Und selbstverständlich bedeutet das radikal veränderte soziale Bedingungen: Eine auch nur annähernd angemessene Anerkennung ihres Schaffens hat Paula Modersohn-Becker nicht erlebt. Erst 1908, ein Jahr nach ihrem Tod, versteht und rühmt Rainer Maria Rilke die „Freundin“ auch als Künstlerin in einem Langgedicht. Genial, sehend. Aber zu spät.

Die Meisterschaft der 1959 im niederländischen Sittard geborenen Dijkstra hingegen ist schon mit den ersten Einzelausstellungen ab Mitte der Achtzigerjahre erkannt worden, vielen – selbst Kolleginnen wie Nan Goldin – gilt sie als „international bedeutendste Fotografin der Gegenwart“. Bestens auf dem Kunstmarkt durchgesetzt und von klugen Galeristen beraten, macht sich Dijkstra rar in der Ausstellungslandschaft. Erlesen sind die Adressen: Art Institute of Chicago, Boston Institute of Contemporary Art, das New Yorker Museum of Modern Art.

Immerhin, das Paula-Modersohn-Becker-Museum ist das erste einer Frau gewidmete Kunsthaus. Dass es die prestigeträchtige Liste fortsetzt, darf dennoch als kleine Sensation gelten. Nicht aber als bloßer PR-Trick der Museumsleitung: Es ist ein anrührendes Treffen, das sich in dem architektonisch so schrillen, expressionistischen Gebäude ereignet, das eine gewisse Ähnlichkeit hat mit der Art, wie Dijkstras eigene Porträts gesehen werden. „Psychologische Intensität“, könnte man rasch dahersagen. Doch die abstrakte Sprache verrät zu wenig. Ohne die Nüchternheit des Blicks abzulegen, in ruhigen, echten Farben lösen diese Fotografien etwas aus: ein Mitgefühl fernab der pathetischen „der Mensch an sich“-Ebene, auf die sich der Katalogtext schwingt. Sie zu sehen, das ist wie eine tatsächliche Begegnung mit den Dargestellten. Dijkstra macht keine Fotos von Leuten. Sie macht Menschenbilder, vor denen erlaubt ist zu staunen.

Staunen und wundern, auf diese Formel lässt sich auch Dijkstras Reaktion bringen, als sie erstmals den Gemälden der 1876 in Dresden geborenen Malerin gegenübersteht. Als sei sie, unverhofft, auf eine Doppelgängerin gestoßen: „There are so many similiarities“, sagt sie.

Man könnte sie im Setting vermuten: Ein „Bauernkind auf einem Stuhl sitzend“ hat Modersohn-Becker 1905 gemalt. Und Dijkstra fotografiert seit 1994 alle zwei Jahre einmal „Almerisa“. Dabei, so viel ist richtig, sitzt die jüngste Tochter einer „bosnischen“ Flüchtlingsfamilie stets. Aber schon in diesem Sitzen ist eine Zeitlichkeit eingefangen, die für Modersohn-Becker keine Rolle spielt. Das Möbelstück im kahlen Raum ist das einzige Requisit der Bilder. Es wechselt von Aufnahme zu Aufnahme: Es erzählt die soziale Biografie des Mädchens.

Viel sprechender ist die Ähnlichkeit dort, wo sie sich nicht aus dem Bildaufbau erschließt. Frappierend: die Konfrontation von Modersohn-Beckers Kinder-Aktzeichnungen mit der berühmt gewordenen „Bathers“-Serie, die mit der Plattenkamera aufgenommene Jugendliche aus aller Welt zeigt; die freilich tragen Badekleidung, und der Hintergrund, bei Modersohn-Becker ein kaum strukturiertes Dunkel, ist im Foto doch erkennbar stets ein Strand. Der Blick aber, die Haltung, dieses Schillern zwischen Selbstbehauptung und ängstlicher Scheu, das wirkt fast so, als hätte das Gemälde als Vorlage gedient. Was nicht der Fall ist, wie Dijkstra versichert. „Vielleicht“, so vermutet sie, „ist es eine Analogie des Gefühls.“

Nicht minder stark die Gemeinsamkeiten zwischen den Aktfotos dreier Mütter, die gerade entbunden haben, direkt vor einer klinisch-kahlen Kachelwand und Modersohn-Beckers großem Selbstporträt als Schwangere: Pastelltöne und, merkwürdig blau betupft, ein zartgelber Fond. Das ist ein Treffen auch in der Radikalität: Modersohn-Becker war 1906 die erste Frau, die sich selbst unbekleidet malte. Und ebenso fehlte der Kunstgeschichte bis 1994 trotz unzählbarer Varianten eine Mutter-Kind-Gruppe, die so unmittelbar vom Geschehen der Geburt bestimmt gewesen wäre und die doch in respektvoller Distanz vor dem Körper verweilt.

Die Begegnung beider Künstlerinnen hat der Inszenierung bedurft: Aus der Bathers-Serie fehlen die Knaben und die Videos des Buzz-Club-Projekts. Auch die Reihe der Stierkämpfer, sonst ein Gegenstück zu den Bildern der jungen Mütter, hätte die Analogieerfahrung beeinträchtigt. Ebenso zeigt das Museum die Hausheilige in ihrer Rolle als Pionierin der Moderne – sprich in ihren eigenwilligsten und stärksten Werken.

Das ist nur gerecht. Denn Paula Becker hat sich die eigene Radikalität in einem mühevollen wie hartnäckigen Kampf erarbeiten müssen. Ein Alltagsgefecht, das nicht ohne Niederlagen hat bleiben können. Die gilt es auszublenden, um sie endlich aus dem Dunstkreis der – die fatale Verbindung ist ja selbst im Namen festgeschrieben – Worpsweder Sumpfmaler zu entreißen, in den sie das öffentliche Bewusstsein noch allzu häufig zurückdrängt.

Der Malerin selbst aber ist das gelungen: Im Frühjahr 1906 notiert sie in einem Brief an Rilke, sie wisse gar nicht mehr, wie sie unterschreiben solle: Weder Modersohn erschiene ihr passend noch der Mädchenname. „Ich bin ich und hoffe, es immer mehr zu werden.“ So viel entschiedene Selbstbehauptung sucht man sogar bei prominenteren Nachfolgerinnen noch lange vergeblich. Gedeckt ist sie durch ein Oeuvre, das als Bindeglied zwischen Impressionismus und Expressionismus unterbewertet wäre: Paula ist ein Solitär – und gerade deshalb kompatibel. Ihr Malen verblasst nicht neben den Fotografien Dijkstras, so wie diese die Eigenständigkeit der Gemälde in der wunderbaren Begegnung nicht nur unbeschadet überstehen. Sie werden reicher. Und sei es nur um das Rätsel der Ähnlichkeit.

Bis 4. Januar. Paula-Modersohn-Becker-Museum, Bremen. Katalog: Kunstsammlungen Böttcherstraße, 18 €