Flüchtig wie das Licht

Die Geburt des Tanzes aus dem Geist der Technik und der Medien: Gabriele Brandstetter ist Professor für Tanzwissenschaft, die erste in Deutschland. Mit theoretischen Figuren schüttelt sie den Staub von den zierlichen Füßen ihres Forschungsgegenstandes

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Seit über hundert Jahren gibt es das Fach der Theaterwissenschaften, aber erst im vergangenen Semester wurde in Deutschland der erste Lehrstuhl für Tanzwissenschaft eingerichtet, am Theaterwissenschaftlichen Institut der FU Berlin. Bis dahin war der Tanz ein Stiefkind der Wissenschaft in Deutschland, und diese Marginalisierung seiner Geschichte scheint seinem geringen Status in der Kulturpolitik zu entsprechen. Wo immer Opernhäuser oder Dreispartentheater in eine finanzielle Krise geraten, steht die Einsparung des Tanzes zuerst zur Disposition.

Das sind die unbedachten Auswirkungen einer Tradition, sagt Gabriele Brandstetter, die nun also die erste Professorin für Tanzwissenschaft an einer deutschen Universität ist, die noch auf die Hierarchie der Gattungen in den Ästhetiken des 18. Jahrhunderts zurückgeht; Kunst und Literatur standen dort höher als der Tanz. Die Schwerfälligkeit des akademischen Betriebs aber steht nicht allein. Ebenso schwer wiegt, dass der Tanz anders als Musik oder Film keine eigene Industrie hervorgebracht hat, keine reproduzierbare Ware herstellt, von keinen Verlagen gehandelt wird. Der Markt, den es für Tanzaufführungen gibt, ist nicht groß genug, um für die Massenmedien und ihren Handel mit Bildern, Geschichten und Legenden eine Rolle zu spielen.

Doch der Bedeutung des Tanzes entspricht diese Ausweisung auf einen Nebenschauplatz schon lange nicht mehr. Spätestens seit dem Beginn der Moderne, seit bildende Künstler und Literaten im Tanz eine Schubkraft fanden, um Bewegung in ihre eigenen Sprachen zu bringen und sie von anachronistischen Schlacken des 19. Jahrhunderts zu befreien, ist der Tanz zu einem Instrument der Innovation geworden. „Um die Wende zum 20. Jahrhundert hat die Literatur, die sich selber in einer Darstellungskrise befand, den Tanz als ein Medium entdeckt, um das Flüchtige der Sprache, die ja immer fixiert wird und dadurch auch mortifizierend wirkt, wieder in Bewegung zu setzen“, beschreibt Gabriele Brandstetter. Sie verfolgt eine These von der Nähe zwischen den Bewegungen der Technik und der Bewegungssprache des Tanzes: dem Reden und Schreiben über Tanz, seiner Darstellung in bildender Kunst und dem frühen Film kommt so immer auch eine vermittelnde Rolle zu, um sich mit der Geschwindigkeit, veränderter Wahrnehmung und der Erfahrung des Flüchtigen auseinander setzen zu können.

Diese Geschichte von der „Geburt der Kunst aus dem Geist der Technik und der Medien“ erläuterte Gabriele Brandstetter in einem Vortrag am Beispiel von Loïe Fuller, die Anfang des 20. Jahrhunderts eine neue Form von Aufführung erfand, in der erstmals das elektrische Licht, das die schwingenden Stoffbahnen ihres Kostüms wie eine bewegte Leinwand reflektierten, eine große Rolle spielte. Loïe Fuller arbeitete mit farbigem Licht, mit Filtern, Drehscheiben und Spiegeln und nutzte ein großes Spektrum technischer Neuerungen, um ihren Körper zu verwandeln. Diese Transformationen setzten sich fort in ihrer Rezeption durch die Dichter, für die Loïe Fuller zur Metapher für die Auflösung selbst, das nicht Definierbare, wurde. Brandstetter zitiert Mallarmé – die Tänzerin ist nicht eine „Frau“, sondern eine Metapher, ihr Tanz ist „von jeglichem Zutun des Schreibens losgelöstes Gedicht“ –, und sie liest einen Text von Valery vor, der in der Beschreibung ständig das Medium wechselt: vom Tanz zur Biologie, von der Bühne zum Film.

Aus solchen poetischen Texten die Bedeutung des Tanzes als eines Mediums herauszufiltern, das viel mehr als eine spezielle Gattung der Kunst betrifft, ist das Aufregende an der Tanzwissenschaft. Sie gleicht einer Archäologie, die ihr Material in ganz unterschiedlichen Quellen aufspüren muss. Sicher, es gibt auch Notationssysteme des Tanzes, Beschreibung der Techniken, Analysen der Motorik, Tanzkritiken und schließlich Fotografien und Videos. Aber mehr als dieses dokumentarische Material verrät über seinen Stellenwert doch oft der Ort der Rezeption und der Gebrauch, den die anderen Künste von ihm machen.

Gabriele Brandstetter verfolgt das Thema Tanz und Technik nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart. „Was vor hundert Jahren zwischen Tanz, bildender Kunst und dem beginnenden Film ein Thema war, begegnet uns jetzt im Film und im Cyberraum, in Kombinationen aus Mensch und Maschine. Es ist schon auffallend, dass sich in den letzten zehn Jahren viele Projekte im Tanz und in der Performancekunst mit den Fragen von Bewegung, Bewegungsübertragung, Speicherung und Erforschung via Computer befassen. Was macht ein Körper anders, der über multiple Punkte erfasst wurde, die in einem virtuellen Netz reanimiert worden sind, sodass dabei Bewegungen herauskommen, die in seinem Code, in seiner Ausbildung nicht vorgesehen waren? Solche Fragen beschäftigen die Tanzszene, William Forsythe zum Beispiel, und das muss eine Tanzwissenschaft analysieren können.“

Deshalb gehört zu ihren Wünschen für die Ausstattung des Fachs, für das sie jetzt erstmals einen Studiengang aufbaut, die Einrichtung eines Dancelab, eines Tanzlaboratoriums. Das müsste zum einen über die Computertechnik verfügen, um sich mit der Simulation von Bewegung, mit Tanzprogrammierung, motion capturing und virtuellem Tanz befassen zu können. Räume zum Experimentieren braucht der junge Studiengang aber auch, weil Brandstetter eine enge Vernetzung von Wissenschaft und Kunst anstrebt: Die Studenten in Praktika an ein Theater zu schicken, reicht ihr nicht. Sie will Künstler an die Universität holen.

Für eine solche Form des Studiums gibt es bisher weder Modelle noch Finanzierungskonzepte. Brandstetter hofft auf Sponsoren, um diese Verknüpfung von Theorie und Praxis umsetzen zu können. Denn dann, glaubt sie, erhält die Wissenschaft eine neue Chance, durchlässig und flexibler zu werden.

Von 1993 bis 1997 hat Gabriele Brandstetter in Gießen gelehrt, am legendären Institut für Angewandte Theaterwissenschaften. Die dortigen Modelle der Vernetzung von Kunst und Wissenschaft brachten zwar viele junge Künstler hervor, gingen ihr aber nicht weit genug in der Veränderung der wissenschaftlichen Forschungsfelder selbst. Da erhofft sich Gabriele Brandstetter mit dem neuen Studiengang mehr erreichen zu können.

In den englischsprachigen Ländern und in Frankreich gelten die Tanzgeschichte und eine Analyse der gegenwärtigen Aufführungspraxis schon länger als wissenschaftlicher Gegenstand an den Universitäten. Doch ebenso wie die Tanzmoderne in Deutschland durch den Nationalsozialismus teils vertrieben und teils ideologisch vereinnahmt wurde, verlor sich auch die Spur der Reflexion des Tanzes in der restaurativen Nachkriegszeit. Jahrzehnte später wurde der Körper zwar vielfach zum Thema in Ästhetik, Philosophie und Soziologie, die Kunstform aber, die ihn am stärksten als ihr Instrument beansprucht, blieb aus diesen Diskursen seltsam ausgeschlossen. Tänzer und Tanzkritiker besuchten seit den Achtzigerjahren zwar immer wieder hoffnungsfroh Symposien zum Thema des Körpers, Tanzhistoriker aber traten dort eher selten auf.

Erst in den letzten Jahren hat sich die Tanzszene, in Berlin zum Beispiel im ehemaligen Theater am Halleschen Ufer, zunehmend selbst auf die Suche nach sprachlicher und theoretischer Durchdringung gemacht. Zwei Jahre lang wurde dort zu „Reden über Bewegung“ eingeladen, und diesen Faden will Gabriele Brandstetter aufnehmen und mit einer Ringvorlesung zum Beispiel ins Theater ziehen.

Die Lücke, die das lange Fehlen einer Tanzwissenschaft hinterlassen hat, ist groß. Und sogar weniger noch als der zeitgenössische Tanz wird das Ballett bisher als ein Medium wahrgenommen, dessen Vokabular zugleich auch eine Form der Reflexion von Geschichte ist. Für die Tanzhistorikerin ist die große Vernachlässigung des Balletts in der Theorie nicht zulässig. Ihr erscheint seine Geschichte eher wie ein unaufgeräumtes Museum, ein Gebiet mit zu vielen weißen Lücken, die zu füllen es nicht nur der Rekonstruktion bedarf, sondern auch neuer Fragen.

„Tanzwissenschaft kann zum Beispiel die Frage stellen: Warum ist die Virtuosität im 19. Jahrhundert so wichtig gewesen? Warum die berühmten 32 Fouettés, was war das für eine Innovation? Wie hängt das mit dem Boom einer sich entwickelnden Technik zusammen? Wenn man diese Zusammenhänge gefunden hat, öffnet sich auch eine neue kritische Perspektive auf die Gegenwart: Warum leben wir heute in einer Ära von scheinbarer Virtuositätsfeindlichkeit?“ Das Thema der Virtuosität, die heute in der Kunst und im Tanz nur noch mit Skepsis beäugt wird, dehnt sich dabei in ihren Untersuchungen schnell aus, wenn sie den Begriff des Virtuosen in Musik, Wissenschaftsgeschichte, Tanz und Theater verfolgt.

Auf ihr Interesse geht der Themenschwerpunkt „Die Virtuosen“ im Jahrbuch der Zeitschrift ballettanz zurück. Darin verdeutlicht Brandstetter, wie die scheinbar anachronistische Figur des Virtuosen eine entscheidende Prägung am Beginn der Geschichte der Aufmerksamkeit, der Medien, der Reklame und des Starruhms darstellt und sich auch als „Effekt eines neuen Mediensystems“ verstehen lässt. Plötzlich wird, was als der Spezialfall einer Ballettgeschichte erschien, zu einem Modell für die Entstehung von Öffentlichkeit und Kunstinteresse. Mit solchen theoretischen Figuren schüttelt der Forschungsgegenstand Ballett plötzlich den Staub von seinen zierlichen Füßen.