Vive la barricade

Genreübergreifend guter Geschmack: Am vergangenen Wochenende fand zum 25. Mal das Transmusicales-Festival im französischen Rennes statt

VON TOBIAS RAPP

Es ist eigenartig, wie tief sich bestimmte Zeichen in die kulturelle DNA einfressen können. Eigentlich war es keine ernst zu nehmende Barrikade, die die paar dutzend Punks zur Eröffnung des Musikfestivals Transmusicales im bretonischen Rennes am Donnerstagabend vergangener Woche errichteten. Es war das Zitat einer Barrikade. Einige Absperrgitter waren auf die Straße gezerrt worden, eine Mülltonne dazugeschoben, fertig. Das, was man eben macht, wenn man keine Karte mehr bekommen hat, aber trotzdem bleiben und sich nicht von der Bereitschaftspolizei vertreiben lassen will. Doch als sie erst einmal stand, erfüllte sie ihren Zweck wie eh und je. Als Hindernis, um das Vorrücken der Ordnungskräfte zu verlangsamen, als Raumteiler, der signalisiert: Hier sind wir, da seid ihr, und als Haufen Müll, den man schnellstens verlässt, sobald mit Tränengas geschossen wird.

Der Auftritt der legendären französischen Punkband Bérurier Noir war es, für den es keine Karten mehr gab, das Auftaktkonzert der Transmusicales. Seit 15 Jahren hatten Bérurier Noir – die man sich vorstellen kann wie eine Mischung aus den Goldenen Zitronen und den Toten Hosen: so schlau und radikal wie Erstere, so grandios stumpf und erfolgreich wie Letztere – nicht mehr gespielt, an diesem Abend sollte es so weit sein. Und zwar nur an diesem Abend.

Zum 25. Mal fand die Transmusicales am vergangenen Wochenende statt, und es sind Überraschungen wie diese, die sie zu einem der renommiertesten Musikfestivals Frankreichs gemacht haben. Großzügig vom französischen Staat subventioniert und mit Jean-Louis Brossard mit einem Programmdirektor gesegnet, der sich, seit es das Festival gibt, auf wenig mehr als seinen genreübergreifend guten Geschmack verlässt. Ursprünglich gegründet, um bretonischen Rockbands einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen, haben Genres wie HipHop oder das immer noch expandierende Universum der elektronischen Musik in Rennes längst eine ebenso große Rolle.

Doch vielleicht weil in der Popmusik links des Mainstreams ohnehin gern mit historischen Zeichen operiert wird, vielleicht aber auch weil sich Brossard für sein Jubiläumsfestival gern auf diese Tendenz konzentrierte – es waren nicht die Auftritte von noch nie gehörten experimentellen Neutönern, die aufhorchen ließen. Es waren Bands, die mit altem Material hantierten, es jedoch auf eine Art und Weise zusammenfügten, wie sie eben nur heute möglich ist.

Etwa !!! (sprich: Tschick, tschick, tschick, so als würde man eine Hihat zischen lassen), eine achtköpfige Band aus Sacramento und New York, die sich anhört, als würde sie das Erbe der Happy Mondays antreten wollen. Alle möglichen Tanzmusikgenres aufnehmend ravten die !!! wie es Bands zuletzt zur großen Zeit der Rave-o-lution konnten: mit einem Frontmann, der wie ein Berserker über die Bühne tobte, die ganze Zeit irgendetwas vor sich hinmurmelte, von dem man nicht viel mehr verstand als „I’m gonna kill the funk“ oder „Can you feel it“ und mit einem Schlagzeuger, der sich nach jedem Stück vor Begeisterung über sein eigenes Tun auf seine Bassdrum stellte und versuchte zu hüpfen. Der Detroiter Amp Fiddler dagegen arbeitete sich an der Musikgeschichte seiner Heimatstadt Detroit ab: Von Motown über George Clinton bis zu frühem Techno reichte das Referenzspektrum hier.

Nun beschränkt sich der Auftrag eines Festivals wie Transmusicales ja nicht nur auf die Vorstellung unbekannter Bands. Genauso wichtig ist es, Musik zu präsentieren, die aufzuführen schlicht zu aufwändig wäre, gäbe es die staatlichen Subventionen nicht. Das britische Orchestra etwa, ein großartiges zwanzigköpfiges Discojazzfunk-Orchester, das klingt wie Barry White’s Love Unlimited auf LSD, dürfte für Veranstaltungen mit marktwirtschaftlicher Kostennutzenrechnung schlicht zu teuer sein.

Zwar zeigt die halbstaatliche Struktur ein paar weniger angenehme Aspekte, etwa die ausgeprägte Zweiklassengesellschaft auf dem Festivalgelände, wo der Bereich für geladene Gäste fast genauso groß ist wie der für das zahlende Fußvolk: Trotzdem ist es ein System, das prima funktioniert. An Transmusicales angedockt gibt es ein riesiges Off-Festival in der Altstadt von Rennes, wo zahllose Bars noch unbekanntere Bands präsentieren, sowie ein Rave vor den Toren der Stadt, der mehrere zehntausend Menschen anlockt. Veranstaltungen, die die Straßen am Sonntagmorgen aussehen ließen, als hätten hier die eigentlichen Schlachten getobt.