Fehlende Schärfe und Virtuosität

Mit der Uraufführung „We are camera“ am Hamburger Thalia Theater beendet Armin Petras nach „Zeit zu lieben, Zeit zu sterben“ und „Vineta. Fight City“ seine Dramen-Trilogie, für die er auch als Autor Fritz Kater verantwortlich zeichnet

Eine deutsche Geschichte, ein Leben im Schnelldurchlauf: Ostfront und Kalter Krieg, Nationalsozialismus, BRD, DDR und die Wende – wie nebenbei vorbeigezogen, dass man es nicht für möglich hält. Geblieben ist dem Vater die Tochter, die mit ihm die Vorliebe für Leberwurstbrote teilt. Und weil sich diese Zeiten nicht ändern sollen, übersieht er ihre Schwangerschaft und dass sie fortan die Stullen für jemand anderen schmieren wird.

Der Vater ist Biologe, der jahrelang für den Osten spioniert hat und mit diesem Doppelleben offensichtlich überfordert war. In einem finnischen Hotel in der Silvesternacht 1969 eröffnet er seiner Frau und den beiden Kindern, dass sie in die DDR ausreisen, um noch einmal neu anzufangen. Von diesem Tag ausgehend wird in skizzenhaften Vor- und Rückblenden von der Kriegs- bis zur Nachwendezeit erzählt. Sie enden 1992 mit dem Besuch der Tochter in der Haftanstalt. Zwei verstrichene Jahrzehnte haben den Vater nicht vor der Verhaftung wegen Spionage geschützt.

Es gibt nicht viele Dramatiker, die so viel politische Zeitgeschichte in einem Stück unterbringen, und nur einen Regisseur, der den politischen Eskapismus zurück in den atmosphärischen Stillstand des Alltags und des Familienlebens treibt. „We are camera“ ist das neue Stück von Fritz Kater, jenem Autoren-Pseudonym, an dem der Regisseur Armin Petras hartnäckig festhält. Petras hat die Ausreise im Alter von 6 Jahren selbst erlebt, als seine Eltern mit ihm in die DDR umsiedelten. In einem Interview hat er einmal alles darüber erzählt, wie er als Kind diesen Umzug politisch wahrgenommen hat: gar nicht. Nicht der Sozialismus sei ihm in Ostberlin aufgefallen, sondern dass er plötzlich in einer Stadt mit Hochhäusern lebte.

Dieser auf die Umgebung und auf Erlebnisfetzen reduzierte kindliche Blickwinkel zieht sich durch den ganzen Abend. Dass auf vielerlei Ebenen gespielt wird, garantiert Petras auch dieses Mal, das signalisiert schon das Bühnenbild: eine Treppe rechts, weiße Styroporplatten als finnisches Packeis links, das Kinderetagenbett steht schief, ein Flokatiteppich bildet einen eigenen Spielraum. Die Familie formiert sich am Küchentisch, verläuft sich dann wieder auf der großen Bühne, die für die Handlung der Figuren keinerlei Ausflucht bietet. Petras zeigt wenig Nischen und einen Realismus, wie er vom politischen System unabhängiger nicht sein könnte: Der Vater beginnt zu trinken, die Mutter begehrt mit einer Liaison gegen den Ehemann auf, um sich dann doch nicht von ihm zu trennen.

„Back to life, back to reality“ lautet der Übertitel gleich der ersten Szene, aber es ist eher die These von der weit verbreiteten Stimmungslage der Realitätsverdrängung zur Bewältigung des Alltagslebens, die aufblitzt. Dieses Jahr, freut sich die Mutter, ist der Karpfen lecker geworden. Silvester werden die Papphüte aufgesetzt. Die Erinnerung an ein paar Böller, die im Wohnzimmer zu früh zündeten und für die Kinder bedeutete, in den Löchern auf dem Wohnzimmertisch zwei Jahre lang Murmeln spielen zu können. Die Szenen des Silvestertags haben comichafte, überzeichnete Oberflächen. Ein Portier, der sich als Trenchcoat-tragender Agent entpuppt oder eine Liebesszene mit Brigitte Bardot auf der Filmleinwand sind zusammenhaltlose Einsprengsel, die sich seltsam mit dem Ton der condition humaine in den lyrischen Monologen vermischen. Aber die Bilder entwerten sich alles in allem gegenseitig.

Man spürt: ja, da war mal was, aber jetzt ist der geschlossene Resonanzkörper Leben in die Luft geflogen und die Einzelteile sind heruntergerieselt. Atmosphärischer Stillstand. Ein Zwischenreich, in dem die Schauspieler konturlos bleiben und einzig Fritzi Haberlandt als Tochter die melancholischen Untertöne im veralberten bis pragmatischen Ton trifft. „We are camera“ soll der Abschluss der Kater/Petras-Trilogie „Zeit zu lieben, Zeit zu sterben“ und „Vineta. Fight City“ sein, die den Blick auf den Osten Deutschlands konzentriert. Die epigonale, antibürgerliche Familiengeschichte passt hervorragend in das Gesamtkonzept, aber seinem Abschluss fehlt es an Schärfe und Virtuosität.

SIMONE KAEMPF