Nachmittagsplaudereien

Gustave Flaubert und seine Welt: Julian Barnes’ Essaysammlung „Tour de France“

Was soll man über ein Buch sagen, dem man so manchen Vorwurf gegen die Bindung knallen könnte? Etwa dass es voller Klischees ist. Oder dass es ein Selbstplagiat ist. Von dem man sich aber trotzdem geistreich unterhalten fühlt, gerade so, als hätte man mit einem klugen Herrn mittleren Alters den Nachmittag verplaudert? Julian Barnes ist ein merkwürdiger Schriftsteller. Angelsächsische Kritiker werfen ihm gerne Intellektualismus vor. Dabei hat er in Romanen wie „Darüber reden“ und „Liebe usw“ einen nachgerade boulevardesken Unterhaltungswillen an den Tag gelegt. Anderseits ist Julian Barnes tatsächlich auch postmodernen Spielereien nicht abhold, dient ihm die französische Kultur, insbesondere die französische Literatur und deren Säulenheiliger Gustave Flaubert, als überragendes Referenzsystem.

Wie schon in seinem schönen Roman „Flauberts Papagei“ widmet Barnes nun in seiner Essaysammlung „Tour de France“ den Großteil seines Augenmerks dem Autor von „Madame Bovary“. Bei Flaubert ist Barnes Amateur und Liebhaber, aber auch detailkundiger Experte. Er stellt den Briefwechsel zwischen Flaubert und George Sand oder Flaubert und Turgenjew nicht einfach vor. Ihm gelingt es, die Korrespondenz zu einem kleinen Porträt der Beteiligten zu verdichten.

Barnes’ Einwurf gegen Sartres „Der Idiot der Familie“ lässt dagegen manchmal den Eindruck entstehen, hier sei ein kontinentaler Witz an einem Engländer vorbeigerauscht. So missversteht Barnes eine Passage, in der Sartre konstatiert, man könne nichts über das Stillen und die Töpfchendressur des jungen Flaubert wissen, als persönliche Kapriole des Philosophen. Sartre sei wohl – igitt, igitt – an einer Stuhlprobe gelegen. Tatsächlich hebt dieser nur auf die Bedeutung der prägenitalen Phasen des Kleinkinds im Sinne der Psychoanalyse ab. Dann wieder erfreuen Barnes’ Ausführungen zu Louise Colet. Colet war zeitweise die Geliebte Flauberts und überhaupt ein Künstlergroupie: Sie verarbeitete ihre Bekanntschaft zu bedeutenden Männern zu Schlüsselromanen. Die Seiten über Colet seien allen ans Herz gelegt, für die die Ausbreitung des Privatlebens durch Semiprominente ein eigentümliches Zeichen der Dekadenz unserer Gegenwart ist.

Außer über Flaubert und seinen Kosmos weiß Barnes in „Tour de France“ noch einiges über den französischen Chanson (Jacques Brel etc), den französischen Film (natürlich Godard und Truffaut) sowie tatsächlich auch die Tour de France zu sagen. Allerdings muss man leider feststellen, dass dieser nicht gerade kleine Themenpark in einem Frankreichbuch doch von ausgesuchter Abgeschmacktheit ist, eine idée reçue Frankreichs gewissermaßen.

Fast logisch, dass einer der schönsten Sätze in diesem Teil der Essays gleich zu Beginn fällt und weder von Frankreich noch Franzosen handelt. Barnes erklärt, warum er es ablehnt, sich von Janis Joplin, Jim Morrison und Konsorten beeindrucken zu lassen: „Eine Überdosis Drogen, ein zum ‚Leben auf der Kippe‘ verklärter, bedröhnter Plumps ins Leere, eine zum größten Verlust der Musikwelt seit Schuberts frühem Tod hochstilisierte Episode melodramatischen Sichgehenlassens – das gibt mir keinen Nekro-Kick.“

Das ist schön gesagt und freut auch den Leser, der nicht den ganzen Tag Jacques Brel und Boris Vian hören mag. Trotz manchen Einwands gegen dieses Buch: Man muss Barnes einfach gern haben. Es gibt schlechtere Arten, düstere Winternachmittage zu verbringen, als sie mit einem klugen Herrn mittleren Alters zu verplaudern.

MARCO STAHLHUT

Julian Barnes: „Tour de France“. Aus dem Englischen von Gertraude Krüger, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 320 Seiten, 22,90 Euro