Entflechtung der Ich-AG

Steuerreform? Arbeitsmarktgesetze? Die Regierung versucht sich als Psycho-Animateurin fürs Volk. Doch die Stimmung ist schon ganz gut – beim Mittelstand

Aber wer entsolidarisiert sichmit wem? Die Antwort ist nicht so einfach,wie die Frage klingt

Die neuesten Reformen sind sehr speziell: Sie sollen vor allem „psychologische Wirkung“ entfalten. An reale Politikfolgen glaubt sowieso niemand, noch nicht einmal die Regierung, die sonst zum amtlichen Optimismus neigt. Aber die Prognosen der Ökonomen waren nicht zu ignorieren. Sie erwarten durchschnittlich 4,45 Millionen Arbeitslose im nächsten Jahr – trotz der Hartz-Reformen. Die Wirtschaft wird zwar wachsen, aber nicht wegen der Steuerpolitik. Man hofft auf den Export.

Diese Aussichten sind unerfreulich für eine Regierung, die „Das Wichtige tun“ als neuestes Motto ausgibt. Wenn das Wichtige ergebnislos verpufft, wie kann es dann noch wichtig sein?

Die Idee der Regierung ist daher bestechend, einfach die Rollenbeschreibung zu wechseln. Nun also versteht sie sich als Psycho-Animateurin fürs Volk. Aber wie ist die nationale Laune eigentlich? Die Diagnose kommt bekanntlich stets vor der Therapie.

An Umfragen fehlt es nicht. Erkenntnisse der letzten Woche waren etwa: Über die Hälfte der Befragten gedenkt, Weihnachten die Kirche aufzusuchen. Das hat Bildwoche ermitteln lassen. Außerdem glauben die meisten an die romantische Liebe – und ein Drittel hat häufig Kopfschmerzen, wie die DAK herausgefunden hat. So richtig überraschend ist das alles nicht.

Auch nicht so richtig interessant, jedenfalls nicht für die Regierung. Sie zielt ja tiefer, auf die Gesamtzufriedenheit der Deutschen. Wie steht es damit?

Wenn die Umfragen der letzten Woche zutreffen, dann muss man wohl konstatieren, dass der Rollenwechsel nicht funktioniert. Die Regierung taugt nicht zur Psycho-Animateurin. 63 Prozent der Befragten glauben nicht, dass die Reformen erfolgreich sind – und 81 Prozent erwarten nicht, nächstes Jahr mehr Geld zur Verfügung zu haben.

Dieser Pessimismus verwundert nicht. Die Bürger scheinen so schlau zu sein wie die Regierung. Sie lassen sich „psychologische Wirkungen“ nicht einfach einreden, obwohl die reale Substanz fehlt. Bewusstsein ohne Sein scheint es nicht zu geben. Das macht eine weitere Umfrage deutlich: Die SPD liegt momentan bei 26 Prozent.

Dieses sozialdemokratische Tief ist aber nicht identisch mit einem Stimmungstief der Bevölkerung. Zwar glauben 62 Prozent der Befragten, dass sich ihre Finanzlage im nächsten Jahr verschlechtern wird, und nur 7 Prozent hoffen auf Mehreinnahmen. Momentan allerdings sind fast 90 Prozent noch zufrieden mit ihrem Einkommen und Vermögen. Die Stimmung ist also eigentlich gut – wenn die Regierung nicht wäre. Sie ist keine Psycho-Animateurin, sondern gilt als Spielverderberin.

Tatsächlich? Da ist noch eine Umfrage, und sie passt so gar nicht ins Bild. 49 Prozent der Deutschen würden am nächsten Sonntag die Union wählen – doch bekanntlich unterscheidet die sich kaum noch von der SPD. Das Gerangel im Vermittlungsausschuss war taktisch, nicht grundsätzlich. Welch böser Witz auf Kosten der Sozialdemokraten: „Psychologische Wirkungen“ gibt es durchaus, aber nur für die Konkurrenz.

Dann aber sind diese „psychologischen Wirkungen“ gewaltig. Vier Parteien tragen den Kompromiss im Vermittlungsausschuss; gemeinsam kämen sie am nächsten Sonntag auf 92 Prozent der Stimmen – und auf 100 Prozent der Sitze, falls die PDS nicht noch irgendwo ein Direktmandat abstaubt. Noch größer kann die Zustimmung der Wähler nicht sein. Immer wieder ist Bundesrepublik als eine Konsensdemokratie beschrieben worden. Bisher war es ein Prozess, jetzt ist es ein Zustand. Mehr Konsens geht nicht mehr. Die Gesellschaft ist absolut formiert; abweichende Meinungen werden kaum noch artikuliert und nur mit Mühe toleriert.

Diese neue Einmütigkeit ist ein bisschen paradox, denn was sich da so kompakt formiert, wird meist mit einem Begriff der Differenz beschrieben: als Prozess der „Individualisierung“. Die Menschen entdecken angeblich ihre Autonomie – und autonom entscheiden sie dann, fast alle der gleichen Meinung zu sein.

Die These von der Individualisierung scheint daher ein wenig zweifelhaft – aber es gibt eine verwandte Theorie, die vielleicht besser passt. Sie konstatiert eine „Entsolidarisierung“. In der Kurzform: Man vertraut nicht mehr dem Staat, nicht mehr den sozialen Sicherungssystemen – sondern versucht, sich privat abzusichern. Wenn sie dürften, würden inzwischen 85 Prozent der Angestellten ihren Anteil an der gesetzlichen Rentenversicherung halbieren und stattdessen in eigene Anlagen investieren. Auch das Misstrauen gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen wächst. Solidarität scheint nur noch teuer. Die „Ich-AG“ ist nicht nur ein neues Angebot für Arbeitslose – sie beschreibt das allgemeine Lebensgefühl.

Aber wer entsolidarisiert sich mit wem? Die Antwort ist nicht so einfach, wie die Frage klingt. Solidarität meint eigentlich, dass die Starken den Schwachen helfen – aber so funktioniert Deutschland nicht. Verteilungswirkungen von Sozialpolitik sind schwer zu messen, doch so weit sich erkennen lässt, wurde die Ungleichheit durch die Staatsmaßnahmen größer, nicht kleiner. Die Mittelschicht, obwohl sie sich nicht so fühlt, hat bisher von der Sozialpolitik profitiert. Sie ist daher gerade dabei, sich von sich selbst zu entsolidarisieren.

Das muss nicht schlecht sein und kann die Übersichtlichkeit fördern. Die Eigenheimzulage ist so ein Beispiel. Da haben alle Steuerzahler jene Begüterten gefördert, die sich eine Immobilie leisten konnten. Nun kommt es zum Tauschgeschäft: Die Steuern sinken, die Eigenheimzulage auch. Die Entflechtung der „Ich-AGs“ hat begonnen. Das scheint einfach ökonomischer.

Bewusstsein ohne Sein gibt es nicht. Dies verdeutlicht eine Umfrage: Die SPD liegt bei 26 Prozent

Privatvorsorge, das große Stichwort, hat allerdings so ihre Vorbedingungen. Man braucht Kapital, gesicherte Einkünfte, und das für lange Zeit, um vernünftig anzusparen. Das Leben muss planbar sein. Dieser Optimismus scheint der Mehrheit nicht ganz fremd. Sie vertraut auf sich selbst. Am Kündigungsschutz etwa hängen nur noch Minderheiten wie die Gewerkschaften – sonst würde eine Volkspartei wie die CDU gar nicht wagen, radikale Einschnitte zu fordern.

Das neue Selbstvertrauen der Bürger ist durchaus bemerkenswert: Als die Arbeitslosigkeit zum Massenphänomen wurde, zirkulierte schnell die These von der „Verunsicherung des Mittelstands“. Diese Stütze der Gesellschaft würde nun fürchten, abzusteigen. Der akademisch gebildete Taxifahrer wurde zum Inbegriff dieser Ängste.

Inzwischen jedoch, so scheint es, hat sich ein sicheres Gefühl für die Risikogruppen entwickelt. Lange arbeitslos sind meist Ungelernte, Ostdeutsche, Aussiedler und Migranten. Der Mittelstand kann sich daher ganz sicher sein: Er bleibt Mittelstand.

Da ist die entsolidarisierte „Ich-AG“ ein stimmiges Programm. Für die Arbeitslosen gilt dies zwar nicht, aber ein solcher Einwand ist Tabu in der neu formierten Gesellschaft: Das würde ja die Rendite der eigenen Privatvorsorge mindern.

ULRIKE HERRMANN