Wem die Erinnerung kommt

Eine Lebensgeschichte in Tel Aviv: Katharina Hacker hat mit „Eine Art Liebe“ einen Roman über einen Überlebenden des Holocaust geschrieben. Es ist auch ein Versuch über das Schreiben und den Umgang mit fremden Biografien

Sie sei eines jener „sonderbaren Geschöpfe“, sagt Katharina Hacker, die schon früh mit dem Schreiben begonnen hätten. Eher still allerdings, so Hacker. Denn wer beschließt schon: „Auch ich möchte Schriftstellerin werden“? Vor allem, wenn die Vorbilder groß sind.

Unterhält man sich länger mit Hacker in ihrer Wohnung im Berliner Stadtteil Friedrichshain, bekommt man allerdings nicht den Eindruck, es mit einem „sonderbaren Geschöpf“ zu tun zu haben. Ungeziert wirkt die 36-Jährige, unprätentiös selbst dann, wenn ihr Worte wie „molestieren“ über die Lippen gehen. Oder sie ihre Lieblingsstelle ausgerechnet aus Theodor Fontanes „Stechlin“ erzählt: „Ich gelte schon für leidlich altmodisch“, sagt an dieser der alte Stechlin zu seiner Schwester, „aber du, du bist ja geradezu petrefakt.“ Ein Wort wie „petrefakt“ entlockt ihr ein Lächeln. Der Gedanke, altmodisch oder gar versteinert zu sein, macht ihr Spaß. Katharina Hacker ergänzt dann aber ernsthaft, sie wolle diese Worte einfach „wiederhaben“. Ihr gehe es um das Aufspüren einer „vergessenen Prägung“, darum, Erinnerungen zu „transmittieren“.

Das Erinnern ist auch ein zentraler Bestandteil ihres Romans „Eine Art Liebe“. In diesem spielen die düstere deutsche Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 und die französische Kollaboration eine große Rolle, und Themen wie Schuld, Verantwortung, Buße und das Verhältnis von Judentum und Katholizismus.

Die Ich-Erzählerin Sophie, eine junge Deutsche, die eine Zeit lang in Tel Aviv gelebt hat, bekommt von dem Jerusalemer Rechtsanwalt und Holocaust-Überlebenden Moshe Fein den Auftrag, seine Geschichte und die seines Freundes Jean aufzuschreiben, die sich als Jugendliche in einer französischen Klosterschule kennen gelernt haben. Der eine, Moshe, überlebt den Krieg, weil er katholisch getauft wird. Der andere, Jean, Sohn eines französischen Faschisten, wird nach dem Krieg Mönch und kommt schließlich unter seltsamen Umständen in Berlin ums Leben.

Sophie, inzwischen wieder zurückgekehrt nach Berlin, schreibt die Geschichte dieser Freundschaft auf, die Geschichte einer Flucht und eines Verrats. Schreibend erinnert sich Sophie daran, was Moshe ihr alles erzählt und wie sich irgendwann auch ihre beiden Geschichten miteinander verflechten. „Eine Art Liebe“ ist auch ein Roman über das Schreiben, die Geschichte einer Schriftstellerin und ihres Umgangs mit fremden Erinnerungen.

Zuvorderst aber handelt dieser Roman davon, dass ein Leben immer auch in einem anderen eine Spur hinterlässt. Und davon, dass die Vergangenheit selbst dann prägend sein kann, wenn sie keine selbst erfahrene Vergangenheit ist. „Wie erzählt man als Deutsche meiner Generation eine jüdische Biografie, wie vergegenwärtigt man jemand anderes Leid, ohne sich das in seltsamer Weise anzueignen?“ Diese Frage stand für Hacker am Anfang ihres Romans, dessen Gerüst sie einem autobiografischen Essay des israelischen Historikers und Publizisten Saul Friedländer mit dem Titel „Wenn die Erinnerung kommt“ entnommen hat. Friedländers Eltern versuchten mit ihrem Kind zu fliehen und ließen es, als die Flucht scheiterte, getauft in einem katholischen Kloster zurück, wo es unter anderem Namen die Nazizeit überlebte.

Während Friedländer das Vorbild für Hackers Romanfigur Moshe abgibt, trägt die Erzählerin Sophie „lediglich meine Daten“: Wie Sophie hat Katharina Hacker in Jerusalem studiert und anschließend in Tel Aviv gelebt. Ansonsten gilt für sie jedoch, eigene Befindlichkeiten ganz zurückzustellen und völlig andere Geschichten zu erzählen. Eine Geschichte beispielsweise, die durch einen Ort wie Tel Aviv erst gegenwärtig wird. Hier sei, so Hacker, die Geschichte des Holocaust enorm präsent durch die Menschen, die ihn überlebt haben. Was für sie mit aufscheint: die besagte eigene „vergessene Prägung“, die verborgene Schuld einer Deutschen, der sie in „Eine Art Liebe“ gleichfalls nachspürt.

Dagegen sei ihre erste Veröffentlichung, die Erzählung „Tel Aviv“, vor allem eine des Überschwangs gewesen; der Versuch, etwas einzufangen von der widersprüchlichen Stadt und den unterschiedlichen Biografien, die sich in ihr konzentrieren. „Ich habe diese Stadt ungeheuer geliebt“, sagt Hacker.

Nach dem Studium der Philosophie und Judaistik in Freiburg verschlug es sie mit einer angefangenen Promotion und ausgestattet mit einem Stipendium nach Israel. Ein paar Tage bevor die irakische Armee in Kuwait einmarschierte, kam sie an und war von da an mehr mit politischen Fragen als mit dem Studium beschäftigt. Das Stipendium wurde verlängert, lief aus, doch sie blieb, übernahm Übersetzungen aus dem Hebräischen und begann, ernsthaft zu schreiben.

„Von einem richtigen Satz hängt alles ab. Das ist eine Überzeugung, der man unbedingt anhängen muss“, heißt es in „Tel Aviv“: eine Art oberstes Gebot auch für die Schriftstellerin Katharina Hacker. Leben und schreiben zu können, sozusagen sich schreibend seiner Existenz zu versichern, diese Position schätzt Hacker außerordentlich. „Allein der Sachverhalt und die Hoffnung, die man dann hat: dass man eben vielleicht wirklich Autorin werden könnte, vielleicht“, erinnert sie die Aufregung um ihr erstes Buch, das nie erschien, weil der Verlag kurz vor der Buchmesse Bankrott ging.

Nun hat sie es schon auf zwei Erzählbände und zwei Romane gebracht, und doch bleibt sie vorsichtig: „Diese ganzen Zweifel, die sich auf Narrativität richten, die ganzen theoretischen und formellen Fragen“. Katharina Hacker will die Leute nicht belästigen mit Büchern, die nichts zu sagen haben; die man nach der Lektüre „schüttelt, weil man hofft, es fällt noch was raus.“

KATRIN KRUSE

Katharina Hacker: „Eine Art Liebe“. Roman, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 268 Seiten, 22,90 Euro