Die Argonauten des östlichen Berlins

Ethnologie vor der Haustür: Anna Schöne erforscht die Stammeskultur der Berliner Subkultur

von MATTHIAS ANDREAE

Am Hofeingang lehnt ein altes Fenster, in dem ein Plakat klebt. Es ist in Linoltechnik mit mittelalterlichen Motiven bedruckt. Rote Kerzen leiten in den Hinterhof und enden an einer kleinen Leiter, die wie eine Taubenleiter aussieht. An ihrem Ende ist eine Luke, nicht höher als einen Meter. Ein schmaler Gang führt ins Treppenhaus. Von dort kommt man in einen kleinen Raum, der nur spärlich mit von rotem Krepp umwickelten Lampen beleuchtet ist. Das Licht zittert rhythmisch im Takt der Technobeats. Hinter der Bar hängt eine Lichterkette, in den Regalen stapeln sich Flaschen, Teller und Töpfe. Die Wand ist mit Schlangen, Drachen und einem großen Adlerauge bemalt. Eine Szenerie wie in einem Fantasyroman von Tolkien.

Anna Schöne steht allein an der Bar. Sie trägt eine modische Achtzigerjahrefrisur und ein ärmelloses, neonrosa Top mit russischen Sportabzeichen. Ihr Blick wandert langsam durch den Raum und streift jeden der Anwesenden. „Ich arbeite wie eine Kamera“, erklärt sie. „Ich versuche, erst einmal alles aufzunehmen.“

Anna Schöne ist Ethnologin. Doch statt afrikanischer Naturvölker erforscht sie in ihrer Doktorarbeit die Berliner Subkultur. „Eine Szene ist so etwas wie ein Stamm: Es gibt weit verzweigte soziale Interaktionen, die von einer bestimmten Kultur getragen werden. Aber es funktioniert natürlich völlig anders. Für mich ist die Frage: Wie entwickelt sich eine Stammeskultur in der Stadt?“ Auf der Suche nach Antworten streift die Dreißigjährige schon seit mehr als einem Jahr auf „Wahrnehmungsspaziergängen“ durch Berlins Szenebezirke Prenzlauer Berg und Friedrichshain, führt Interviews und schlägt sich in Ausstellungen und Clubs die Nächte um die Ohren.

So wie heute in einem besetzten Haus in der Brunnenstraße. Dabei registriert sie nicht nur die Musik, die Kleidungsstile und die Inszenierung der Location, sondern vor allem die Alltagsrituale, Routinen und Gewohnheiten der Szenegänger. Basierend auf ihren Notizen aus dem Nachtleben verfasst sie Gedächtnisprotokolle. „Wenn ich mein Material gesichtet habe, montiere ich die einzelnen Elemente zusammen. Mir geht es zunächst darum, plastisch zu beschreiben und Lebenswelten zu bebildern“, erklärt sie. „Erst dann kommen die Analyse und der thematische Zugang.“ Nachtleben – ein hartes Stück Arbeit? Für Schöne schon: „Ich muss mich eigentlich jedes Mal aufs Neue aufraffen. Bei der Beobachtung ist vollständige Konzentration notwendig. Danach bin ich immer ganz schön k.o.“

Skepsis gegenüber ihrem Projekt ist sie gewöhnt. Als sie sich um ein Stipendium bewarb, musste sie sich rechtfertigen: „Die dachten, ich will nur Party machen.“ Der Prüfungskommission hat sie erklärt, dass es ihr Ziel ist, zu beschreiben, wie Stadt und Subkultur in Dialog miteinander treten: „Inwieweit lässt eine Stadt eine bestimmte Szene zu? Und inwieweit nimmt eine Szene die Gegebenheiten einer Stadt auf und entwickelt auch aus dem Ideellen, das wir mit einer Stadt verbinden, einen bestimmten Stil? Die Analyse der Szene als urbaner Akteur stellt bisher ein soziologisches Defizit dar.“ Viel zu lange, glaubt sie, ist Subkultur als bloße Gegenkultur verstanden worden. „Das Spezifische an der Subkultur ist, dass sie das, was unsere Kultur ausmacht, bewusst macht, ausdrückt und in Begriffe und einen Stil bringt.“

Ihr Forschungsfeld umschreibt sie als „alternative Technoszene“. Anders als auf der Love Parade handele es hierbei nicht um eine bloße Freizeitkultur, sondern um einen Lebensstil. Schöne sieht in ihm zahlreiche Parallelen zur Hippiekultur. Schließlich hat sie die Prüfungskommission überzeugt. Das Stipendium wird ihre Arbeit noch bis zum Ende nächsten Jahres finanzieren. Dann will Schöne ihre Promotion abschließen.

Schöne hat ein neues Gesicht auf der Party entdeckt. Sie verwickelt den Punk mit Irokesenschnitt und zahlreichen Piercings in ein Gespräch. Nachdem sie ihm ihr Forschungsprojekt erklärt hat, holt sie aus ihrer Tasche ein abgegriffenes Schulheft mit einem Kurzfragebogen. „Was sind deine Ziele im Leben?“ Der Punk lacht laut. Die „soziologischen Hardfacts“ sollen Schöne als Hintergrund dienen. Wichtiger sind ihr aber Gespräche über persönliche Erfahrungen, über die Gratwanderung zwischen Existenzsicherung und alternativem Lebensentwurf.

Inzwischen ist sie in der Szene akzeptiert. Auch, weil sie sich selbst an Projekten beteiligt. Für ein Open-Air-Festival hat sie eine Diashow mit Barockmusik entworfen. „Fotografieren, Filmen, Mitschneiden ist aber ohnehin szenetypisch. Deshalb verhalte ich mich eigentlich in der Logik dieser Subkultur“, so Schöne.

Ein Beamer wirft Westernszenen an die Wand. DJ team rocket füllt den Raum mit Technoklängen. Auf der Tanzfläche hüpfen junge Mädchen mit viel nackter Haut wie Elfen zwischen Jungs mit Strickmützen. Zu bestimmten Musikphrasen heizen sie sich immer wieder mit Jubeln ein. Unter ihnen ist bald auch Schöne.

„Bei dieser Art von Arbeit nutzt es dem Ethnografen manchmal, Kamera, Notizbuch und Bleistift zur Seite zu legen und sich selbst am Geschehen zu beteiligen. Er kann an den Spielen der Eingeborenen teilnehmen, er kann sie auf ihren Besuchen und Reisen begleiten und sich zu ihnen setzen, zuhören und sich an ihrer Unterhaltung beteiligen“, heißt es im Klassiker der modernen Ethnologie, „Die Argonauten des westlichen Pazifik“ von Bronislaw Malinowski.

Um ein empathisches Verständnis der fremden Weltsicht zu bekommen, lebte der polnische Forscher in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts auf den Trobriand-Inseln in Neuguinea als „Eingeborener unter Eingeborenen“ und begründete damit die Methode der „teilnehmenden Beobachtung“ für die ethnologische Feldforschung. Der Soziologe Robert Ezra Park übertrug diese Vorgehensweise als erster auf die Erforschung der Stadtkultur. Auch Schöne ist von den anderen Szenegängern auf der Tanzfläche kaum zu unterscheiden. Die langen dunkelbraunen Haare fallen ihr ins Gesicht. Sie reckt die geballte Faust in die Höhe und hüpft im Takt der Musik auf und ab. Mehr und mehr scheint sie selbst Teil dieser Welt zu werden.

Alle Ethnologen sind Ersatzabweichler“, meint Schöne. „Sie fühlen sich zu exotischen Milieus hingezogen, ihnen fehlt aber der Mut, selbst einen solchen Lebensentwurf zu verwirklichen. Deshalb unternehmen sie nur Ausflüge mit Rückfahrkarte.“ Kritiker sehen in diesem Distanzverlust der Ethnologen auch die Ursache der einstigen Idealisierung vieler Ureinwohner als „edle Wilde“. Schöne ist sich des Risikos einer romantischen Verklärung bewusst. Trotzdem ist sie überzeugt: „Es gibt eine echte Subkultur. Es gibt wirklich alternative Lebensentwürfe.“ Mit den Schwierigkeiten der ethnologischen Feldforschung hat sie allerdings immer noch zu kämpfen: „Es gibt den Ethnologenethos: No sex with the natives. Aber ich habe mit der Distanz so meine Probleme.“ Sie lacht. „Ständig verliebe ich mich in irgendwelche Typen.“

Drei Monate später: Schönes Feldforschung ist eigentlich abgeschlossen. Zuletzt ist ihre Rolle als Wissenschaftlerin mit der einer Szenegängerin zusammengewachsen. Auch deshalb plant sie nun einen Bruch, will die nächsten Monate nur noch im Archiv, in der Bibliothek und am Schreibtisch verbringen, um wieder Distanz zu gewinnen. Sich wieder an einen „normalen“ Arbeitstag zu gewöhnen, fällt ihr nicht leicht. Als sie angesprochen wurde, ob sie sich nicht an einem Symposium über legale psychoaktive Pflanzen beteiligen will, hat sie doch wieder zugesagt. Und steht jetzt hinter einer Bar mit Pflanzenextrakten in einem Club in der Kulturbrauerei. „Moonwalk, Venuswave und Kokmok sind der Renner.“

Wieder weist nur ein unbeschriftetes Plakat den Weg in die Lounge. Einen Türsteher gibt es hier nicht. Es kommt, wer von heute Abend erfahren hat: auf der letzten Party, per E-Mail oder auf einem Flyer. Das Setting ist heute deutlich schicker. Sofas und Matratzen sind im Raum verteilt, zwei Diaprojektoren werfen Bilder an die Wand. Eine Treppe mit Windlichtern führt zu einer Galerie und einer Fotoausstellung. Für Schöne ist dieser Club nicht weniger typisch: „Da steckt derselbe Spirit dahinter. Es ist eine Kultur, aber es gibt verschiedene Stile. Die Subkultur hat keine Grenze, sie ist ein Netzwerk, das über ganz Berlin geht.“

Langsam füllt sich der Raum. Schöne grüßt Bekannte, umarmt, küsst. Nach über einem Jahr in der Szene fühlt sie sich hier fast wie zu Hause. Der Rückzug in die Klausur soll kein Abschied für immer sein: „Ich werde weiter ins Wagenburgkino gehen und in die Volksküche, und ich werde natürlich auch weiter schauen, welche Lounge aufgemacht hat.“ Der Barkeeper hat viel damit zu tun, Stempel zu verteilen und Cola auszuschenken, deren Etikett „Geschichte, Kraft, Geschmack, Aufrichtigkeit, Konsequenz und Leben“ verspricht. Auf seinem T-Shirt ist zu lesen: „I will never stop living this way.“

MATTHIAS ANDREAE, 26, ist freier Journalist und war selbst sechs Monate „teilnehmender Beobachter“ im Berliner Nachtleben