Für eine andere Union

Ein Weg aus der Eurosklerose: Die mutigsten Länder schließen sich jenseits der Brüsseler Institutionen zusammen und definieren damit die weltweite geopolitische Ordnung neu

Eine echte europäische Gemeinschaft kann nur außerhalb der EU-Strukturen gelingen

Die jüngste Krise der Europäischen Union wird oft wie eine der vielen unzähligen Krisen dargestellt, die die Union bislang bewältigen musste. Dabei gibt es diesmal gar keine Krise zu bewältigen, keine Klippe zu umschiffen und keine Fortschritte zu machen. Wir erleben seit dem Brüsseler Gipfel Mitte Dezember nur, wie ein Gemeinschaftsprojekt vollendet und künftige Institutionen eingerichtet werden, die in der Zukunft kaum verändert werden können.

Sowohl die Diskussion über die Union als auch die Perspektiven für die EU müssen vom Grundsatz her vollkommen neu überdacht werden. Mit dem Vertrag von Nizza verfügt die Union über einen gemeinsamen Vorschriftenkatalog, der auf eine Union mit 25 Mitgliedstaaten zugeschnitten ist. Es ist illusorisch zu hoffen, dass die Staatschefs bestimmter Länder Modifikationen des Nizza-Vertrages zugunsten eines anderen Vertrages, der fälschlicherweise stets als „Verfassung“ bezeichnet wird, zustimmen werden. Geschweige denn, dass sie anderen Staaten auch nur eine Handbreit mehr Macht in dieser Gemeinschaft zugestehen werden. Warum sollten sie dies tun?

Insbesondere ist es absurd zu glauben, dass die spanische oder polnische Regierung Änderungen an einem Vertrag, der ihnen so viele Vorteile einräumt, akzeptieren werden, nur um ihre eigene Macht zum Vorteil Deutschlands und Frankreichs beschneiden zu lassen. Sie sind dazu noch weniger bereit, weil Frankreich und Deutschland sie wie Nationen zweiter Klasse behandelt haben, die bei dem Streit über den Krieg im Irak „eine gute Gelegenheit verpasst haben, sich zurückzuhalten“. Jetzt liegt es an Deutschland und Frankreich, die Rechnung für diesen verbalen Missgriff zu bezahlen.

Die neuen EU-Institutionen müssen damit zurechtkommen, dass bei einem immer größer werdenden Bedarf immer weniger Mittel zur Verfügung stehen werden. In Zukunft wird die Union nicht in der Lage sein, ihren 25 Mitgliedern so viele Subventionen zu gewähren, wie sie es heute bei einer Mitgliederzahl von 15 noch leisten kann. Durch die Aufnahme von zehn armen Ländern und durch den Vorsatz, die Beitragszahlungen der einzelnen Mitgliedstaaten nicht zu erhöhen, befindet sich die Union in der prekären Lage, den Umfang ihrer Zuschüsse weiter kürzen zu müssen. Dies betrifft zum einen die Förderung strukturschwacher Regionen, aber auch die Bereiche Landwirtschaft, Soziales und Industrieförderung. Vor allem aber bedeutet es noch weniger Gelder für so wichtige Ressorts wie Wissenschaft, Bildung, Gesundheit, Verteidigung, Justiz, Polizei und Einwanderungspolitik. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika in alle diese Bereiche verstärkt investiert.

Es bringt also nichts, unter dem Deckmantel einer neuen Verfassung über völlig lächerliche – weil ineffiziente – Reformen des Nizza-Vertrags zu verhandeln. So oder so würden sie bestenfalls in zehn Jahren wirksam werden. Bis dahin würden die Handlungsunfähigkeit unserer Institutionen und die Unstimmigkeiten zwischen einzelnen EU-Nationen unseren Kontinent angesichts indischer Spitzentechnologie, chinesischer Wettbewerbsfähigkeit und einer geopolitischen Neuordnung, die in einem generellen Desinteresse Amerikas an der Zukunft Europas gipfeln wird, unaufholbar weit zurückwerfen.

Deshalb ist es unvernünftig, wie einige weiterhin zu glauben, die Europäische Union mutierte eines schönes Tages – aufgrund eines weiteren, als „Europäische Verfassung“ bezeichneten Vertrages – zu einer lebensfähigen politischen Einheit. Im Gegenteil: Seit dem Vertrag von Amsterdam entwickelt sich die Union von Tag zu Tag mehr zu einem immer undurchsichtigeren, schwerfälligeren, bürokratischeren Apparat, der sich zunehmend auf die Abwicklung einer für seine Industrie selbstmörderischen Wirtschaftspolitik reduzieren lässt.

Das In-Kraft-Treten des Vertrages von Nizza wird diese Blockade perfekt machen und die Union schließlich in einen losen Staatenbund aus etablierten EU-Staaten und osteuropäischen Ländern verwandeln, wie es François Mitterrand schon 1990 vorgeschlagen hat. Der französische Präsident wollte damals verhindern, dass die EU erweitert wird, bevor sie über die dafür notwendige politische und wirtschaftliche Stärke verfügt. Mit dem Ergebnis, dass es anstelle einer Konföderation, die unabhängig neben der EU existiert, nur noch eine Konföderation der EU-Altländer mit den Neumitgliedern geben wird.

Angesichts dieser Herausforderung sollten die Europäer, die den Niedergang ihres Kontinents verhindern wollen, schnellstens einen anderen Gang einlegen. Es wird nicht genügen, wie die Franzosen und die Deutschen auf die Dynamik bilateraler Beziehungen zu setzen, die letztendlich wirkungslos bleiben müssen – selbst wenn sie für sich gesehen wichtig sind. Es wird auch nicht genügen, sich um die Bildung neuer spezifischer Gemeinschaftsprojekte zwischen den Ländern der EU zu bemühen, wie man es beispielsweise beim Abkommen von Schengen und beim Euro getan hat.

Diesmal muss man noch weiter gehen und sich von überholten Konzepten trennen. Die Länder, die dazu bereit sind, sich in einem Rahmen zusammenzuschließen, der den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird, müssen darauf verzichten, ihre Zukunft in der Reform der Institutionen der Union zu sehen oder gar in der positiven Entwicklung einiger Länder der EU. Sie müssen es stattdessen wagen, außerhalb der bestehenden Strukturen der Union durch die Koordination ihrer politischen, militärischen und wirtschaftlichen Systeme, solange diese noch existieren, eine echte europäische Gemeinschaft zu gründen.

Die Neumitgliederaus Ostmitteleuropa machen aus der EU einen losen Staatenbund Die Union reduziert sich auf die Abwicklung einer für ihre Industrie selbstmörderischen Wirtschaftspolitik

Eine einfache Lösung ist möglich: Die Länder, die den von Giscard d’Estaings Kommission vorgelegten Verfassungstext akzeptieren können, nehmen ihn ohne weitere Diskussionen an – und verhindern damit, dass die Büchse der Pandora wieder geöffnet wird. Oder sie wagen jenseits der Brüsseler Institutionen einen Zusammenschluss der Nationen, der die weltweite geopolitische Ordnung neu definiert. Genau genommen bleibt nur die letzte Option, – oder das Verschwinden Europas von der politischen Bildfläche. Die Entscheidung steht noch an.

JACQUES ATTALI

Aus dem Französischen von Kerstin Rumpeltes