Wiederkehr aus dem Schattenreich

Lange für gestorben gehalten, ist der Gegenstand wieder in die zeitgenössische Malerei zurückgekehrt. Aber er hat sich etwas merkwürdig verändert. Die Ausstellung „UnHEIMlich“ in Delmenhorst widmet sich den morbiden Motiven, in denen sich die aktuelle Wende zur Wirkungsästhetik spiegelt

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Unheimlich? In der Malerei führt diese Frage ins Reich des Gegenständlichen.

Abwegig erschiene sie schließlich bei Informel und Monochromie: Ein Dreieck müsste sich schon sehr anstrengen, wollte es dem Betrachter einen Schauer über den Rücken jagen. Und solange die Farbe nicht hinausgreift aus der Leinwand, Relief und Plastik wird und eigene Welt – wen sollte sie schrecken?

Der Trend ist wirklich da. Dass unter dem Etikett „Unheimlich“ eine Ausstellung glaubwürdig neueste Positionen der Malerei versammeln kann, ist Beweis genug: Der lange für die Kunst gestorben geglaubte Gegenstand ist zurück.

Delmenhorst ist eine Kleinstadt zwischen Oldenburg und Bremen, Heimat der Sängerin Sarah Connor und auch sonst recht monströs. Der klassische Schauplatz für Schocker Marke Stephen King. Aber Stephen King kennt Delmenhorst nicht: Deshalb ist die Leiterin der dortigen Städtischen Galerie, Barbara Alms, für beklemmende Entdeckungen zuständig.

„UnHEIMlich“ also, mit preziösem großem „Heim“, um nur ja klarzustellen, dass man sich weiterhin auf einem hohen theoretischen Level bewegt, heißt die aktuelle Schau. Das ist nötig: Denn zunächst signalisiert der Begriff eine Wende zur Wirkungsästhetik. Gemein ist allen gezeigten Werken, dass sie sich einem oberflächlichen Konsum nicht widersetzen. Das lässt sich verständlicher fassen: „Es ist klar“, so Alms, „dass diese Malerei die Schwelle zum Trivialen aufsucht.“

Besonders deutlich macht das Johannes Hüppi. 32 mal 24 Zentimeter, das ist ziemlich winzig, dazu noch ohne Rahmen und auf Karton, der sich wellt – der 1965 in Baden-Baden geborene Künstler gibt seinen Ölgemälden einen materiellen Status nahe von Müll. Zugleich bedient er sich schamlos aus dem Bilder-Fundus von seichtem Fantasy und softpornografischen Wichsvorlagen. Schmeichelnde Schattierungen, Weichzeichner auf nacktem Fleisch, sattes Idyllengrün – das ist sonst die beschönigende Farbstrategie der Air-Brush-Szene. Und dann kugelt die lasziv dahingeräkelte Frau zwischen ihren üppig prallen: Brüsten? – nein: Es muss Titten heißen – ein abgeschlagenes Männerhaupt.

„UnHEIMlich“ ist die Fortsetzung der Neorealismus-Ausstellung, mit der Alms schon vor drei Jahren „Die Wirklichkeit in der zeitgenössischen Malerei“ suchte. Gleichwohl ist die Ausstellung weniger der Versuch, einen Erfolg zu wiederholen, als der im Sinne der Feldforschung notwendige und von mitreißender Neugier inspirierte nächste Schritt: die Suche nach Vergleichsmaterial. So integriert Alms auch dieses Mal fotorealistische Arbeiten: Der Hannoveraner Thomas Dillmann hat entmenschte Wohnsilos hinter winterkahlen Bäumen aufs große Format gebracht. Doch das ist allenfalls unheimlich langweilig. Das Hauptinteresse liegt hingegen in der Vielfalt der Stile: Vehement El Grecos sonnenlose Himmelslandschaften zitierend, lässt Michael Kunze mit manieristischer Detailversessenheit Baustellen in den Irrsinn türmen. Den schärfsten Kontrast zu ihnen bilden wohl die Inszenierungen des Abwesenden, für die der Belgier Luc Tuymans bekannt ist: „Hair“ aus dem Jahr 2000 zeigt einen im Gestus des Impressionismus gemalten weiblichen Schopf, gelegt um ein Gesicht, das fehlt. Es ist einfach nicht da, aber die Konturen doch. Und ein dunkler Fleck suggeriert: Hier wäre der Hals.

Das Unheimliche ist alles andere als ein philosophisch scharfer Begriff. 1919 steckte Sigmund Freud mit einem close reading von E. T. A. Hoffmanns „Sandmann“-Erzählung das Terrain ab. „Unheimlich“, so lautet einer der Kernsätze des einschlägigen Essays, „ist irgendwie eine Art von heimlich.“ Denn das Unheimliche soll nichts Neues, Fremdes sein, sondern im Gegenteil Heimisches, Vertrautes, das im Prozess der Verdrängung entstellt wird. Gleichzeitig liefert Freuds Essay als Ausgangspunkt ein regelrechtes Bildprogramm: Es liest sich wie ein Brevier der Psychoanalyse zu Kastrationsangst, zum Doppelgängermotiv bis zum Wiederholungszwang.

Bemerkenswert, wie gut sich die Neue Gegenständlichkeit mit ihm fassen lässt. Denn so unterschiedlich ihre Stile, so deutlich die motivischen Gemeinsamkeiten: Überall lauern anthropomorphe – sprich: bösartige – Tiere, schemenhafte und verstümmelte Körper. Ein versehrtes Dasein. Als beschädigt wahrnehmbar ist es jedoch nur durch die darstellerische Illusion, hier wäre nicht bloß Farbe auf Leinwand zu sehen, sondern Gestalt: Das Glücksversprechen der Malerei klebt noch immer am Gegenstand. Doch es ist stumpf. Verloren hat es alle Aussicht auf Erfüllung.

Nein, das ist beileibe keine triumphale Auferstehung. Im Gegenteil. Die visionärste Position, das sind die Arbeiten Armin Boehms. Sie scheinen ihre Kraft direkt aus dem Wissen darüber zu beziehen, dass von Duchamp bis Beuys die herrschende Avantgarde für Pinselschwinger bestenfalls Spott übrig hatte: Wahnwitzige Farben, aufgetragen scheinbar in explosiver Wut und doch komponiert nach ultraklassischen Prinzipien. Als sollten hier Farbtafeln und hyperintellektuell konzipierte Serien mit Tritten in den Matsch gedrückt werden, lässt der 31-Jährige einen wirr in allen Regenbogenfarben schattierten Birkenwald aus einem irgendwie schlackigen Sumpfgrund auf sechs Quadratmeter Nesseltuch emporästeln. Und aus den Stämmen quellen gequält blickende Kinderköpfe, die auf dem pervers entstellten Rumpf von Michelin-Männchen sitzen.

Ein anderes Gemälde: In ein schmutziges Licht getaucht, das von einem krankhaften Neongrün bis in ein Chemikalien-Violett changiert, erstreckt sich im Hintergrund die Stadt. Vorne umrahmt sie, ganz wie bei Caspar David Friedrich, der beginnende Wald. 2002 steht dran. Aber in Wirklichkeit muss das lange nach dem Atomschlag gemalt sein.

Man muss ein Stück weit lügen, um zu verstehen, wie der Kunstbetrieb funktioniert. Es wurde immer gemalt. Und der Gegenstand war nie wirklich fort. Dass diese neue Malerei sich so gut unter der Rubrik des Unheimlichen fassen lässt, beruht eben auf der nur strategischen Behauptung seines Schwindens. Dass er verbannt war, abgetaucht ins Reich der Schatten, das ist der Gründungsmythos, den sie gewählt und verinnerlicht hat.

Bis zum 25. Januar. Katalog 16 €