Lasst echte Gesamtschulen blühen

Die dänische Minderheit traut sich umzusetzen, worüber Deutschland noch nicht zu streiten wagt. Sie schafft die dreigliedrige Schule ab. Und führt die integrierte Gesamtschule ein. Die Schulrevoluzzer im Norden sind genervt von der Kultusbürokratie, weil sie Auslese auch in der Schule für alle vorschreibt

AUS FLENSBURG MATTHIAS ANBUHL

Im letzten Winkel, im äußersten Zipfel der Republik ist, bislang weitgehend unerkannt, eine kleine Revolution im Gange. Die Schulen der dänischen Minderheit im Norden Schleswig-Holsteins wagen den Systemwechsel. Die Dänen schaffen das dreigliedrige System ab und führen die integrierte Gesamtschule ein – in Deutschland.

Der Umsturz hat in Eckernförde und Husum begonnen. Die übrigen Schulen sollen in den kommenden Jahren folgen – wenn es die Eltern wünschen. „Die Chancen stehen gut. Die Nachfrage ist enorm“, sagt Uwe Prühs, stellvertretender Direktor des Dänischen Schulvereins in Flensburg. „In zehn Jahren gibt es hier nur noch dänische Gesamtschulen“, erklärt ein hochrangiger Vertreter der Minderheit. Noch tut er es hinter vorgehaltener Hand.

Die dänische Revolution haben interessanterweise jene ausgerufen, die bisher nicht als Gesamtschulfans galten – die Eltern. Aufgeschreckt haben sie die Befunde der Pisa-Studie, die deutschen Schulen ein hundsmiserables Zeugnis ausstellt. Das gegliederte System sei mittelmäßig, unsozial und „aus einer alten Zeit“. So urteilen die Bildungsforscher über Schulen im Land der Dichter und Denker.

Auslese verfehlt das Ziel

„Das Ziel der frühzeitigen Differenzierung, nämlich leistungsschwächere und leistungsstärkere Schüler durch Trennung in verschiedene Schulformen optimal zu fördern, wird verfehlt“, rückt Andreas Schleicher, Leiter des Pisa-Programms bei der OECD, einen Irrtum über die deutsche Schule zurecht: „Weder werden in den Hauptschulen leistungsschwächere Schüler besonders gut gefördert, noch ergibt die Auslese der vermeintlich leistungsstärksten Kinder für das Gymnasium eine zufrieden stellende Leistungsspitze.“ Im Klartext heißt das: Die deutsche Krankheit, der „Auslese-Bazillus“, führt gar nicht zu besseren Leistungen. „Unsere Eltern wollen deshalb mehr dänische Pädagogik“, sagt Prühs.

Im Königreich Dänemark ist die frühe Auslese von Kindern verpönt. Noch in der neunten Klasse lernen dort alle Kinder gemeinsam in der Folkeskole. Erst dann müssen sie sich entscheiden: Mache ich eine Berufsausbildung? Gehe ich weiter zur Schule? „Die Dänen kennen keine Gymnasiasten oder Hauptschüler“, erklärt Klaus Plöen, „für sie gibt es einfach nur Kinder; mit ihren ganz persönlichen Stärken und Schwächen.“ Plöen ist Direktor der dänischen Gesamtschule in Eckernförde.

Die Keimzelle des Umbaus

Plöens Schule ist die Keimzelle der lautlosen Bildungsrevolution. Als die Sozialdemokraten das Schulgesetz in Schleswig-Holstein für die Gesamtschulen öffneten, leitete Plöen den Systemwechsel ein: „Wir brauchen eine Schule, die den Kindern möglichst lange sämtliche Bildungswege offen lässt.“ Das gegliederte Schulsystem, das seine Schützlinge schon mit 10 nach Leistung sortiert, tauge nicht zur optimalen Förderung des Nachwuchses. „Ich habe an Hauptschulen begabte Mathematiker erlebt, die dort verkümmerten“, sagt Plöen, selbst Mathelehrer.

Im Sommer 1995 wagten die Eckernförder den Schritt von der Haupt- und Realschule zur Gesamtschule. Heute ist es eine Erfolgsstory. Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder zur dänischen Gesamtschule, es gibt dort fast doppelt so viele Abiturienten. „Deutschland klagt über einen Akademikermangel. Wir Dänen wirken dem entgegen.“

In der dänischen Minderheit ist Klaus Plöen mittlerweile ein gefragter Mann. Auf dem Schreibtisch seines kleinen Schulsekretariats stapeln sich die Einladungen zu Elternabenden. Der Direktor soll aus erster Hand von den Erfolgen der Eckernförder berichten. An den meisten Schulen der dänischen Minderheit gab es bereits Umfragen: Seid ihr für oder gegen die Gesamtschule? Läuft es für die Freunde der Revolution gut, stimmen alle Eltern für den Strukturwandel. In schlechteren Fällen votieren „nur“ 85 Prozent für die Gesamtschule.

Für solche sozialistischen Wahlergebnisse gibt es eine Erklärung. „In Dänemark ist die Systemdebatte kein Links-rechts-Thema. Hier gibt es keine ideologisch aufgeheizten Diskussionen“, sagt Daniel Dürkop, Redakteur der Flensborg Avis, der Zeitung der Minderheit.

Ohnehin fragen sich viele Mitglieder der dänischen Minderheit, warum man sich so lange an dem deutschen System orientiert hat. Wieso gibt es südlich der deutsch-dänischen Grenzen nicht schon längst ganz viele, kleine Folkeskolen? Die Antwort ist simpel: Die deutsche Bürokratie hat lange Jahre nicht mitgespielt. „Wir konnten den Wandel erst wagen, als die Regierung Gesamtschulen als Regelschulen zuließ“, erklärt Prühs.

Noch heute leiden die Dänen unter dem Reglementierungswahn der Deutschen. Die Kinder müssen ab der siebten Klasse – zunächst in wenigen, später in mehreren Fächern – nach Leistung sortiert werden. So verlangt es die Kultusministerkonferenz, sonst wird der dänische Abschluss von den Behörden nicht anerkannt. Deshalb müssen auch an Gesamtschulen die Kinder in Grund- und Erweiterungskurse separiert werden.

„Wir beugen uns dieser Vorschrift, schließlich wollen wir die Zukunftschancen unserer Schüler nicht schmälern“, klagt Klaus Plöen. Noch. Viel lieber würde der Schulleiter jedoch auf diese Form der Auslese verzichten. Die Kinder sollten – wie in Skandinavien längst üblich – mindestens bis zur neunten Klasse gemeinsam unterrichtet werden – in einer Klasse. „So weit ist die deutsche Kultusbürokratie aber noch nicht“, klagt Plöen. In Deutschland ist die Strukturdebatte ohnehin noch tabu. Selbst hartgesottene Sozialdemokraten, auf dem Papier eigentlich Gesamtschulfreunde, meiden sie wie der Teufel das Weihwasser. Man fürchtet eine Neuauflage des heiligen Krieges um die Schule. Als es in den Siebzigerjahren um die Gesamtschule ging, präsentierte die SPD ehrgeizige Pläne – und die Union schickte protestierende Eltern gegen die vermeintliche „Gleichmacherei“ auf die Straße.

Zwar müsse die Diskussion geführt werden, „ob unser Schulsystem leistungsfähig ist, ob es die in unseren Kindern steckenden Begabungen noch ausreichend weckt“, sagt Kultusministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD). Sie plädiert für eine Weiterentwicklung des Systems, für mehr Durchlässigkeit und Überwindung der starren Schulartgrenzen. Eine Wiederauflage des alten Gesamtschulstreits hält sie für kontraproduktiv. „Das System ist schuld an der Misere – damit machen wir es uns aber auch zu einfach. Der Unterricht muss besser werden, wir brauchen klare Zielvorgaben und Verfahren zur Überprüfung und bessere individuelle Förderung.“

Der deutsche Kulturkampf um das rechte Schulsystem entlockt den Dänen nur ein müdes Lächeln. Letztlich mache ein Systemwechsel aber nur Sinn, wenn ihn Schüler, Lehrer und Eltern gemeinsam wollen, sagt Klaus Plöen: „Die Deutschen müssen selbst wissen, welche Schule sie haben wollen. Wir haben uns entschieden.“