Kucken se ma: auf bremens leinwand
: Bilder aus der Welt der Blinden: Der Dokumentarfilm „Augenlied“

„Zum Glück bin ich blind!“, sagt da eine junge Frau, während sie mit den Händen ihre Umgebung abtastet, und man ist schockiert über diese Aussage. Ist es nicht einer der schlimmsten Verluste, nichts mehr sehen zu können? Aber der Satz der in Deutschland lebenden Türkin macht durchaus Sinn. Wenn sie weiter erzählt, dass man sie als Sehende in ihrem kleinen Dorf früh an irgendeinen Mann verheiratet hätte und ihre Welt dort viel kleiner und unfreier geblieben wäre. Aber dennoch: was für eine Aussage! „Ich hab meine Maschinenpistole nicht erwischt“, sagt dagegen der alte Mann, der mit 19 Jahren im Krieg bei einem Granatenangriff sein Augenlicht verlor und sich in den ersten Minuten seines Blindseins erschießen wollte. Seitdem muss er sich seine Umgebung im Kopf erschaffen, und alle Landschaften, in denen er sich bewegt, sehen für ihn wie von Caspar David Friedrich gemalt aus.

Dass ausgerechnet ein Film uns Sehenden die Welt der Blinden ein wenig näher bringen kann, gehört zu den vielen wunderlichen Dingen, die wir in „Augenlied“ erfahren. Hätten Sie es etwa für möglich gehalten, dass es in Spanien eine blinde Nachrichtenmoderatorin im Fernsehen gibt oder Sie einem Blinden zustimmen müssen, der sagt: „Sehende, scheint mir, sehen wirklich nicht viel“? Die beiden Dokumentarfilmer Mischka Popp und Thomas Bergmann sind durch Europa gereist und haben Blinde besucht, die ihnen von ihrer Welt erzählen, und man bekommt schon sehr bald das Gefühl, alle Blinden müssten Philosophen sein. Weil ihnen soviel Außen fehlt, konzentrieren sie sich aufs Innen, und weil sie fast nur verbal kommunizieren, können sie sich sehr gut ausdrücken. Und sie haben oft eine poetische Ader.

„Warum küsst man mit geschlossenen Augen?“ fragt der Universitätsprofessor und Dichter John Hull, der in seinem Büro gefilmt wurde. Der Blick aus dem Fenster am Bildrand genügt, um zu bemerken, dass wir auf dem Campus einer mittleren Universität sind. Es ist schwer, genau zu definieren, woran genau wir dies erkannt haben: In diesem Film denkt man unwillkürlich auch darüber nach, was genau man sieht. Die Filmemacher arbeiten viel mit solchen „Establishing Shots“, die einen Überblick auf Umgebung und Personen geben, und selten ist man sich im Kino so dessen bewusst, wie wichtig diese visuellen Ortsbestimmungen für Sehende sind. Die Blinden sprechen meist mit offenen Augen direkt in die Kamera. Auch dies macht nachdenklich, denn sie wissen nicht, welches Bild sie abgeben und wirken immer etwas schutzlos unseren Blicken ausgeliefert.

Der Film ist voller überraschender Erkenntnisse aus dem Sein ohne Bilder. Zum Glück drücken die Regisseure damit nicht auf die Tränendrüsen. Statt dessen waren sie neugierig und am ehesten erinnert „Augenlied“ deshalb an die Bücher von Oliver Sacks wie „Der Mann, der seine Frau mit seinem Hut verwechselte“, in denen dieser über die phantastischen Innenwelten von Neurologiepatienten berichtet. Fast alle Blinden scheinen Frieden mit ihrem Verlust geschlossen zu haben und am bewegendsten an dem Film ist, wenn man sieht, wie sie ihr Leben meistern. Der polnische Geiger etwa, der auf Straßen spielt und zu dem alle Virtuosen des Landes pilgern, oder der Russe, der einen Verlag mit Büchern in Blindenschrift betreibt, um die Literatur für seine Welt zu retten. Wilfried Hippen

Läuft im Kino 46