Der allerletzte Mensch

Die Schönheit der Leere, die Attraktivität des Nichts und der Monolog eines Mannes, der durch die flache Landschaft der Lüneburger Heide radelt: Christian Pade bringt mit „Schwarze Spiegel“ einen kurzen Roman von Arno Schmidt aus dem Jahr 1951 auf die Bühne im Schauspiel Hannover

„Schwarze Spiegel“ ist ein anachronistischer Stoff, geprägt von seiner Entstehungszeit

von KATRIN BETTINA MÜLLER

1951 schrieb Arno Schmidt „Schwarze Spiegel“, einen Roman über die unaufgeregte Schönheit einer menschenentleerten Gegend nach dem Atomschlag. Kein apokalyptischer Horror bestimmte den Grundton, sondern Genugtuung über den Untergang der Unvernunft. In Pfadfinderromantik freundet sich der letzte Überlebende mit Gebüsch und Wetter an, und lehnt seine Sprache an die struppige Verwilderung und das Überwachsene der untergegangenen Kultur an. Über ein halbes Jahrhundert später bringt der Regisseur Christian Pade den Monolog des Mannes, der durch die flache Landschaft der Lüneburger Heide radelt, auf die Bühne im Schauspiel Hannover. Das lädt tatsächlich dazu ein, sich vorzustellen, was einem alles erspart geblieben wäre, wenn die letzten fünfzig Jahre nicht stattgefunden hätten: Touristenströme, die jede schöne Landschaft verstellen. Konsumterror und Neoliberalimus. Bush, Michael Jackson und Daniel Küblböck. Man selbst allerdings wäre dann auch nicht da, um diese Stille zu genießen. Nur die Kakerlaken, die hätten es wohl geschafft.

„Schwarze Spiegel“ lebt von der Leere und der Attraktivität des Nichts. Die Nachkriegserfahrung, in einer zerstörten Welt weiterleben zu müssen, verkehrt sich in eine surreale Utopie. Wie von einem umgedrehten Existenzialismus, der das Wegbrechen der Bezugssysteme nicht angstvoll zu kompensieren versucht, sondern es als Befreiung erlebt, ist das Selbstgespräch des Erzählers (Matthias Neukirch) durchzogen. Der Bühnenaufbau von Alexander Lintl erinnert an die spartanischen Bedingungen des Nachkriegstheaters. Das Publikum sitzt auf der Bühne, vor sich eine leere Fläche, dahinter ein ungewöhnlicher Blick in die zusammengeschobenen Kulissen. Seitlich liegt der leere Zuschauerraum, über dessen Sitzreihen Matthias Neukirch später samt Fahrrad steigt und dabei von den zerstörten Elbbrücken erzählt. Alle übrigen Bilder müssen aus der Sprache entstehen.

Das aber funktioniert nur teilweise. Die verschrobene Prosa Schmidts, das Torkeln der Bedeutungen auf kurzen Strecken, verlangen ein Mitgehen von Wort zu Wort; im offenen Theaterbau aber gehen Satzsegmente immer wieder akustisch verloren, bevor das Verstehen auf der Höhe der Wortspiele angekommen ist. Dennoch folgt man Matthias Neukirch gern, seiner schlaksig ausgewachsenen Infantilität, mit der er die Hülle des Theaterbaus wie einen Abenteuerspielplatz nutzt.

Das Schauspiel Hannover hat viele aktuelle Romanstoffe in seinem Spielplan – „Regenroman“ von Katrin Duve, „Gleißendes Glück“ von A. L. Kennedy, „Plattform“ von Houellebecq – , die in der Bühnenbearbeitung immer noch ein Deutungsspektrum gewonnen haben. „Schwarze Spiegel“ ist damit verglichen ein anachronistischer Stoff, geprägt von seiner Entstehungszeit. Schmidt war einmal ein Kultautor, ein sich selbst inszenierender Faun in der norddeutschen Tiefebene, nicht einzugemeinden in die Ära der Restauration: Statt mit Trauer und Wiederaufbau beschäftigt zu sein, freut er sich an der Vorstellung der Tabula rasa.

Man könnte bei Arno Schmidt die Kraft der Negation lernen, und das macht ihn interessant für den Diskurs der Gegenwart. Der Inszenierung von Christian Pade gelingt es aber nicht, Brücken zu schlagen zwischen Schmidts Fantasien der Verweigerung und heutigen Systemen des Entzugs.

Vielleicht, weil die Inszenierung zu sehr damit beschäftigt ist, die kunstvoll verknappte Sprache Schmidts, die oft aus der grammatikalischen Spur springt, um der ursprünglichen Wahrnehmung näher zu kommen, zu renaturalisieren. Es kann nicht einfach sein, sich darin so selbstverständlich zu bewegen wie im eigenen Schweiß. Neukirch schafft es, sein Überlebender ist glaubwürdig im Zwiegespräch mit Wolken, in der Freude über gefundene Konserven, in der Gewöhnung an den Umgang mit den Toten, im Überwinden der Traurigkeit. Aber seine Welt ist auch eng, es gibt nur das, was ihm vor Augen liegt und unter den Rädern des Fahrrades knirscht.

Sie gleicht einem Experiment, das heute wieder beliebt ist: Menschen auszusetzen und allein mit der Technologie ihrer bloßen Hände auskommen zu lassen. Der Ekel, der Schmidt trieb, hat sich transformiert und ist zu einem Teil der Medienmaschine geworden, die in solchen Versuchsanlagen gerade leugnen will, wie sie selbst die Welt verändert hat. Diese Entwicklung mitzudenken fehlt den „Schwarzen Spiegeln“.