Donuts bringen keine Erlösung

Der Alltagswahnsinn und der Tod: „Halloween“ und „Ganz alltägliche Leute“, zwei neue Romane von Stewart O’Nan

von GERRIT BARTELS

Das erste Kapitel in Stewart O’Nans neuem Roman „Halloween“ ist eine Grußadresse von den Toten: an Amerika, an seine Bürger, vor allem an die in den aufgeräumt-tristen Vorstädten, besonders aber an einen, den jungen Tim. Der hat an Halloween einen schrecklichen Autounfall körperlich unversehrt überlebt – anders als sein Freund Kyle, der schwere geistige Behinderungen davontrug, anders als Danielle, Marco und Toe, die sofort tot waren, als der Camry sich um den Baum wickelte.

Nun sind speziell diese drei Toten zurückgekehrt, als zusätzliche Erzähler, die von O’Nan in Folge in Klammern in ihr Recht gesetzt werden, als Begleiter und Kommentatoren der Lebenden. Es ist schließlich in zweierlei Hinsicht ihr Tag: der, an dem sie genau vor einem Jahr ums Leben gekommen sind, und eben Halloween, Tag der Geister und Toten. Also schauen sie nach dem Rechten in Avon, Connecticut. Sie schauen: was Brooks so treibt, der Polizist, der sie damals verfolgte und sich schuldig fühlt, weil er glaubt sie in den Tod getrieben zu haben. Wie Kyle mit seiner Behinderung zurechtkommt: der neue Kyle, wie sie ihn nennen, der alte lebt in einem Zwischenreich, nicht dem ihren, nicht dem der Lebenden. Wie Kyles Eltern mit der Situation und ihrem behinderten Sohn umgehen. Wie zwei andere Freunde von ihnen, Greg und Travis, ihrer gedenken. Und selbstverständlich, was Tim an diesem Tag macht. Tim, der Halloween genauso verleben will wie vor einem Jahr; der plant, Halloween um Schlag Mitternacht zu einem haargenau so würdigen wie schrecklichen Ende zu bringen.

In „Halloween“, dem Roman, der dieser Tage gleichzeitig mit seinem drei Jahre älteren Buch „Ganz alltägliche Leute“ auf Deutsch erschienen ist, zeigt Stewart O’Nan sich in seinen bevorzugten literarischen und thematischen Elementen. Man spürt sein Faible für Spannung, Geschwindigkeit und Pulp, seine Nähe zur Gothic Novel, seine Begeisterung für Autoren wie Ray Bradbury, Denis Johnson oder Stephen King, seinen Hang zum Morbiden und Kaputten, der seinen komischerweise immer noch unübersetzten Vietnam-Roman „The Names Of The Dead“ genauso auszeichnet wie den Gruft-Rocker „Das Glück der Anderen“, und der sich selbst in seinem Doku-Roman über einen Zirkusbrand in Hartford findet.

Das Leben ist bei O’Nan undenkbar ohne die Toten, und im Fall eines mehrfach tödlichen Verkehrsunfalls hat es gegen die Toten fast keine Chance – ein Jahr reicht nicht mal zum Heilen der Wunden, geschweige denn zum Vergessen. Das Leben aber liefert immer wieder den Stoff für O’Nans Romane: „Halloween“ basiert auf der wahren Geschichte eines jungen Mannes, der Selbstmord beging, in dem er sein Auto gegen denselben Baum steuerte, an dem ein halbes Jahr zuvor sein Bruder umgekommen war.

Auf dem anderen Strang von „Halloween“ zeigt sich Stewart O’Nan wieder einmal als Archivar eines Alltags, der aus der modernen Lebensart der amerikanischen Suburbs und aus der Popkultur besteht. Beide machen den oben angeführten Schrecken genauso möglich wie sie den Soundtrack dazu bilden: „Ist es möglich eine Seitenstraße ohne Gehsteige zu lieben? Geparkte Autos und Holzhäuser?“, fragt das erste dem Roman vorangestellte Zitat. Das zweite stammt von Kurt Cobain: „Ich hasse mich und wäre am liebsten tot.“ Ein Verkehrsunfall ist das eine, eine bestimmte Todessehnsucht das andere. O’Nan stellt keine Coolness aus, er zeichnet nicht um des Aufzeichnen willens auf. Ihm geht es vielmehr um die Unausweichlichkeit des von Marken und Pop geprägten Alltags, um ihre Verlinkung mit den natürlichen Verrichtungen des alltäglichen Lebens wie schlafen, Sex oder aufs Klo gehen.

Es wird viel Auto gefahren in „Halloween“ mit Jeeps, Vics, Camrys oder GTIs, Parkplätze und Straßen sind wichtige Schauplätze, und so lernt man das Straßenverkehrsnetz von Avon detailliert kennen: eine „Geisterstadt“ für gelangweilte junge Menschen, die nicht rauskönnen aus ihrem Leben zwischen Mobile-Tankstelle, Fleetbank, Stop ’n’ Shop und Boston Chicken. Die Erlösung davon bringt nur der Tod.

O’Nan scheint für seine Person entschieden zu haben, dem alltäglichen Wahnsinn den Wahnsinn des Bücherschreibens entgegenzusetzen: Jährlich erscheinen von ihm ein oder zwei Bücher, ohne dass dieser hohe Output ihnen qualitative Schäden zufügen würde. In „Ganz alltägliche Leute“ variiert O’Nan sein Thema, in dem er den Horror und den Knautsch-Pop außen vor lässt. Der Tod ist in diesem Buch der normale Alltag in Pittsburghs Schwarzenviertel, wo er die jungen Leute oft schneller trifft als alte: Drogen, Drive-By Shootings etc. Ansonsten gehen hier die every day people zur Arbeit, kommen nach Hause, stehen wieder auf und so weiter. „Ganz alltägliche Leute“ ist eine Art Sozialroman, frei nach Alan Silitoe, mit einem jungen Rollstuhlfahrer als Hauptfigur. Eine Sozialreportage mit großen Momenten, die „Roman“ heißt, aber mehr Leben als Fiktion ist und wie schon „Der Zirkusbrand“ beweist, dass O’Nan sich nicht um genrespezifische Kategorien kümmert.

Lebt „Ganz alltägliche Leute“ von seiner Schlichtheit und der wachen Intensität seiner Superhelden, so zeichnet sich „Halloween“ durch seine einfache, aber effektive Konstruktion aus: Zielgerichtet läuft alles auf Tims zweite Begegnung mit dem Todesbaum hinaus, daraus bezieht der Roman seine Spannung. Man hört die Uhr förmlich ticken. Und man leidet mit Kyles Mutter, deren Abendessen mit ihrem in sich gekehrten Mann vielleicht der Höhepunkt des Romans ist, und bangt mit Tim, dass es vielleicht doch eine Umkehr gibt. Man versteht Brooks, den Polizisten, dessen Leben zerstört ist, hofft, dass er Tim beschützt, zweifelt aber genauso, da auch Brooks seinen Blutzoll zahlen möchte.

Über allem schwebt der ultimative Crash – gegen die Schrecken des Lebens helfen keine Donuts und keine Miller-Biere, und die Songs von den Smashing Pumpkins oder den Black Crowes eignen sich immer auch als Todesmelodien.

Stewart O’Nan: „Halloween“. Deutsch von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, geb., 256 Seiten, 19,90 Euro Stewart O’Nan: „Ganz alltägliche Leute“. Deutsch von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, Paperback, 320 Seiten, 12 Euro