Viel Getöse um ein Tagebuch

Wie authentisch ist das Buch „Eine Frau in Berlin“? Hans Magnus Enzensberger reagiert auf Fragen mit Empörung

Inquisition!? Hm. Wer auf Fragen mit Empörung reagiert, hat erst mal selbst ein Problem. Man kann als Leser nämlich nicht wissen, ob die Empörung echt ist oder kalkuliert. Die persönliche Verunglimpfung von Fragestellern durch Empörung ist schließlich ein beliebter rhetorischer Kniff. Und es hieße Hans Magnus Enzensberger gehörig zu unterschätzen, wenn man behaupten würde, dass er in der Kunst der rhetorischen Kniffe nicht versiert sei.

In der gestrigen Ausgabe der FAZ hat Enzensberger einen Text platziert, der seiner Empörung freien Lauf lässt. Er sieht sich von „Inquisitoren“ umgeben und spricht von „Skandaljournalismus“. In der Sache geht es um die Zweifel an der Textgestalt des in Enzensbergers Anderer Bibliothek anonym herausgekommenen Buchs „Eine Frau in Berlin“; doch auf die Sache geht Enzensberger gar nicht ein. Will er sie in gut löwenhafter Manier einfach wegbrüllen? Diesen Eindruck kann man hier entwickeln.

Die Fragen bleiben aber. Anders als von Enzensberger nahe gelegt, drehen sie sich im Kern keineswegs darum, Hannelore Marek, der Erbin des „Eine Frau in Berlin“ zugrunde liegenden Tagebuchs, Manipulation zu unterstellen. Auch darf man weiterhin daran zweifeln, ob es tatsächlich angemessen war, den Namen der anonymen Autorin zu verraten, wie es der Journalist Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung getan hat. Die zentrale Frage aber lautet, inwieweit der publizierte Text mit dem authentischen Tagebuch übereinstimmt, das die Autorin im Jahr 1945 in Berlin geführt hat.

Der Eichborn Verlag, in dem die Andere Bibliothek erscheint, ließ inzwischen Walter Kempowski Einsicht in die Originale nehmen. Kempowski, Inhaber eines gewaltigen Tagebuch-Archivs, hat die Authentizität der Kladden bestätigt. Sein zweiseitiges Gutachten kann allerdings die Frage nicht abschließend beantworten, ob zwischen dem Originaltagebuch und der heutigen Ausgabe weitere Bearbeitungsschritte lagen. Und genau das ist nun der Punkt, an dem Enzensberger Nachforschungen als moralisch verwerflich denunziert.

Dabei ist er, alles Wortgetöse mal beiseite gelassen, schlicht interessant. Die große Wirkung des Buchs liegt vor allem in dem lakonischen Tonfall, mit dem die Autorin die schrecklichen Dinge registriert, die nach Kriegsende in Berlin geschahen. Renée Zucker hat in der taz geschrieben: „Es ist der Ton, den ich von meiner eigenen Mutter kenne … Diese betonte Unsentimentalität. Das Grobe und Abrupte.“ Ob die Autorin diesen Tonfall schon während des Tagebuchschreibens, also im unmittelbaren Erleben, gefunden hat oder ob er sich einer nachträglichen Bearbeitung des Erlebnismaterials verdankt, das ist eine historisch, mentalitätsgeschichtlich und auch literarisch hoch gewichtige Frage. Zumal bei dem großen Erfolg, den dieses Buch im vergangenen Jahr hatte. Es wäre gut, wenn man sie bald beantworten könnte.

Auch Enzensberger selbst sollte ein Interesse daran haben, die Debatte zu versachlichen. Denn es hieße diesen Intellektuellen auch zu unterschätzen, wenn man ihn sich nicht als einen mit allen Wassern gewaschenen Herausgeber vorstellt. So sind die umlaufenden Gerüchte, dass das ebenfalls von Enzensberger herausgegebene Buch „Manieren“ keineswegs, wie auf dem Cover angegeben, vom äthiopischen Prinzen Asfa-Wossen Asserate, sondern vom Frankfurter Schriftsteller Martin Mosebach geschrieben wurde, bislang noch nicht dementiert worden. Enzensbergers Empörung in allen Ehren, aber über gesundes Misstrauen sollte er sich nicht übermäßig wundern. DIRK KNIPPHALS