Männerfleisch als Fetisch

Das Urteil des Kasseler Landgerichts im Prozess gegen den „Kannibalen von Rotenburg“ fällt milde aus. Armin Meiwes habe zwar seine Machtgefühle ausgelebt, aber nicht aus sexueller Lust getötet

AUS KASSEL HEIDE PLATEN

Zu acht Jahren und sechs Monaten Haft wegen Totschlags verurteilte die 6. Große Strafkammer des Kasseler Landgerichts gestern Vormittag den 42-jährigen Computertechniker Armin Meiwes, der als „Kannibale von Rotenburg“ in die bundesdeutsche Rechtsgeschichte eingehen wird und es bis ins außereuropäische Ausland zu großer Publizität gebracht hat. Vorsitzender Richter Volker Mütze folgte damit weder der Staatsanwaltschaft, die eine lebenslängliche Gefängnisstrafe gefordert hatte, noch der Verteidigung, die um ein milderes Urteil nicht über fünf Jahren gebeten hatte. Mütze stellte in der Begründung fest, dass Meiwes zwar einen Menschen „vorsätzlich“ getötet habe, aber dennoch kein Mörder sei. Er habe weder zur Befriedigung des Geschlechtstriebs noch aus sonstigen niederen Beweggründen noch heimtückisch gehandelt und mit seiner Tat auch keine andere Straftat verdecken wollen. Der Fall sei allerdings „rechtlich viel komplexer“, als sich das in der Urteilsbegründung darstellen lasse, „weil wir uns im Grenzbereich des Strafrechts befinden“. Täter wie Opfer seien zwar im juristischen Sinne schuld- und steuerungsfähig, also einsichtsfähig in ihr Handeln, aber dennoch psychisch schwer gestört gewesen.

Suche nach Schlachtopfer

Meiwes hatte den Berliner Diplomingenieur Bernd Jürgen B. (43) in der Nacht des 10. April durch einen Stich in den Hals getötet, anschließend an einem Fleischerhaken aufgehängt, ausgeweidet, zerteilt, das Fleisch portioniert, tiefgefroren und später rund 20 der 30 Kilo Gefriergut nach und nach aufgegessen. Die nicht verwertbaren Reste des Mannes vergrub er im Garten seines heruntergekommenen Gutshofs im nordhessischen Ortsteil Wüstefeld. Am Abend zuvor hatte er B. auf dessen Verlangen mit einem Messer kastriert. Die beiden Männer hatten sich im Internet kennen gelernt, wo Meiwes als „Franky“ und „Anthropophagus“ ein Schlachtopfer suchte. Neben zahlreichen anderen, weniger ernsthaft Interessierten meldete sich auch B. Er hatte jahrelang vergeblich jemand gesucht, der entschlossen genug wäre, ihm den Penis abzubeißen und ihn anschließend zu töten.

Vorsitzender Mütze wertete die Absprache der beiden Männer als strafmildernd und folgte damit weitgehend der Argumentation zweier Gutachter. Die Männer, beide „erheblich psychisch gestörte Persönlichkeiten“, hätten sich im Internet „gesucht und gefunden“. Keiner habe sich für die Belange des anderen sonderlich interessiert, sondern nur an die jeweils eigene Wunschbefriedigung gedacht. Die Tat sei „in einer Art“ Vertrag ausgehandelt worden. Dabei habe Meiwes die „sexuellen Spielchen“ des B. und die Penisamputation eher widerwillig als Vorleistung auf das Schlachten und Verspeisen erbracht.

Mit dem Urteil endete ein in der Bundesrepublik bisher einmaliges Verfahren, dessen Ausgang bis zum Ende offen geblieben war. Staatsanwalt Marcus Köhler hatte die lebenslange Haft wegen Mordes zur Befriedigung des Geschlechtstriebs und zur Ermöglichung einer anderen Straftat, nämlich der Störung der Totenruhe, gefordert. Der Verdacht, Meiwes habe aus Lust getötet, ließ sich während der gesamten Beweisaufnahme allerdings nicht erhärten. Er habe das Entmannen und das Töten des B., sagte der Angeklagte immer wieder, als „notwendiges Übel“ und als Teil der gegenseitigen Abmachung empfunden. Auch mit der anschließenden Weiterverarbeitung sei B. einverstanden gewesen. Die beiden Gutachter bestätigten Meiwes, dass er nicht aus sexueller Lust getötet habe. Sein Begehr sei es vielmehr schon seit seiner Kindheit und Jugend gewesen, einen anderen Menschen zu schlachten und aufzuessen.

Sexuelle Befriedigung als Mordmotiv, so hielt Köhler dagegen, sei dennoch im Spiel gewesen. Schließlich habe dem Schlachten und Aufessen das Töten als Mittel zum Zweck vorausgehen müssen. Meiwes habe seine Machtgefühle ausgelebt. Zudem habe der Angeklagte die Stunden vor und nach B.s Tod auf einem Videofilm dokumentiert, den er dann als Stimulans beim Onanieren und als Lockmittel im Internet benutzt habe. Dies sei eine „auf tiefster Stufe stehende, höchst verwerfliche Tat“. Köhler zitierte jenen Studenten, der die Ermittlungen 2002 ausgelöst hatte. In einem Chat schrieb er zuvor an Meiwes: „Du tust denen, die du schlachtest, keinen Gefallen. Du nutzt eine Lebenskrise aus … Du bist ein Mörder!“

Das Gericht würdigte den aufmerksamen Internetnutzer als vorbildlich. Im Internet, so Mütze, gebe es mehr „als wir uns träumen lassen“: „Da leben kranke Personen ihre Fantasie aus, denen eigentlich Hilfe zuteil werden müsste.“ Auch Meiwes habe zur Tatzeit „in einer anderen Welt“ gelebt, Opfer wie Täter hätten „den Realitätsbezug“ verloren. Beide hätten sich, „für Außenstehende schwer nachvollziehbar, „irrational“ verhalten.

Rechtsanwalt Harald Ermel wollte seinen Mandanten lediglich wegen „Tötung auf Verlangen“ verurteilt sehen, Höchststrafe fünf Jahre. Mord setze immer voraus, dass das Opfer gegen seinen Willen umgebracht werde. B., so dagegen das Gericht, habe seinen Tod nicht ausdrücklich verlangt. Ihm sei nach der Kastration „alles egal“ gewesen. Das Einverständnis sei als „eher formal“ zu werten, der Angeklagte habe es in seinem Sinne ausgelegt. Es sei unbestritten, dass B. noch gelebt habe, als Meiwes zustach. Meiwes hatte ausgesagt, er habe diese Lebenszeichen nicht wahrgenommen, und erst auf dem Video gesehen.

Die beiden Gutachter Klaus Michael Baier und Georg Stolpmann hatten mit ihren Gutachten Neuland betreten. Der Sexualwissenschaftler Baier stellte fest: „Für das, was er ist, gibt es keine Klassifikation.“ Eigentlich sei Meiwes, in der Kindheit von der Mutter dominiert, fast asexuell. Es habe ihn nur nach dem „Fetisch“ Männerfleisch verlangt. Es gehe um Angst vor Verlassenwerden, um Geborgenheit durch das Einverleiben eines anderen Menschen, darum, mit dem Opfer „zu verschmelzen“. Dass er und und der „extreme sexuelle Masochist“ B. sich per Mausklick kennen gelernt hätten, habe eine eigene Tragik: „Jeder hat den anderen instrumentalisiert.“ Für Meiwes sehe er keine Chance der Umstrukturierung seiner gestörten Persönlichkeit. Wahrscheinlich sei aber, dass er seinen Drang werde beherrschen können. Stolpmann bescheinigte Meiwes ein ausgeprägtes „Selbstwertgefühl“. Zu Einfühlungsvermögen in andere sei er nicht imstande: „Meiwes hat sich einen Traum erfüllt.“

Stilisiert als Sterbehelfer

Das Gericht verwarf den von der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwurf der „Störung der Totenruhe“. Dazu wäre erforderlich, dass der Täter „dem Toten seine Verachtung bezeigen will“. Das aber sei bei Meiwes nicht der Fall gewesen: „Das Ganze ist zwischen den beiden abgesprochen gewesen.“ Als strafmildernd wertete Mütze außer der Mitschuld des Opfers, dass der Angeklagte sich freiwillig gestellt, ein umfangreiches Geständnis abgelegt und sich an der Beweisaufnahme aktiv beteiligt habe.

Armin Meiwes folgte der fast zweistündigen Urteilsbegründung konzentriert. Er hatte das Schlusswort am Montag noch einmal zur Selbstrechtfertigung genutzt. Er faltete die Hände vor dem Bauch und wiederholte mehrfach, Bernd Jürgen B. habe seinen Tod so und nicht anders gewollt: „Es war sein Wille!“ Und: „Für ihn war es ein schöner Tod!“ Meiwes stilisierte sich selbst als Sterbehelfer. Der Todesstich, sagte er mit erschüttertem Timbre in der Stimme, sei ihm „sehr, sehr schwer gefallen“. Reue dosierte der als Mustergefangener geltende Angeklagte bis zum Prozessende sparsam. Eine Wiederholungsgefahr sah Meiwes für sich nicht. Er habe gelernt, dass Fantasie und Realität zweierlei seien. Sein Geständnis sei für ihn eine Erleichterung gewesen und im Gefängnis fühle er sich „so frei wie noch nie in meinem Leben“. Zum Ende seines Vortrags kündigte er ein Buch über seine Lebensgeschichte an. Außerdem wolle er sich in Therapie begeben.

Vorsitzender Richter Mütze sinnierte am Ende seiner Urteilsbegründung darüber, ob Meiwes nicht besser in psychiatrischer Behandlung untergebracht wäre. Das aber lasse das Strafgesetz in diesem Fall nicht zu, aber: „Der Angeklagte wird es auch in der Strafhaft nicht leicht haben.“

Verteidiger Harald Ermel zeigte sich zufrieden mit dem Urteil. Sein Mandant sei zwar nicht therapierbar, aber dennoch keine Gefahr für andere. Er habe sein Fehlverhalten eingesehen und sei ein „Mustergefangener“. Die Staatsanwaltschaft kündigte Revision an.