Traumata sind für alle da

Der Hut von Beuys und die Entwicklung selbständiger Persönlichkeiten: In Leipzig tagt ein Kongress zur ästhetischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Dazu ein paar ganz unpädagogische Anmerkungen zur Kunstpädagogik

Kunsterziehung für Kinder und Jugendliche: eine feine Sache. Aber schwierig, wenn Sie mich fragen. In meinem Fall hat nur ein Kunstlehrer bleibenden Eindruck hinterlassen. Er hatte eine unglaublich tiefe Stimme, kam aus Amerika, saß ständig gelangweilt an seinem Pult und gab allen immer eine Drei. Zu mehr reicht’s nicht, murmelte er dazu und blickte wild. Eine schlechtere Note hätte er aber wohl als zu unpädagogisch empfunden.

Manchmal schimpfte er auf die deutsche Genieästhetik (von heute aus gesagt, damals wusste ich noch nicht, was Genieästhetik ist). An seinem Pult murmelte er Sätze wie: „Inspiration, das ist doch ein Taubenschiss!“ Dann lachte er grimmig. Unter Feuilletonisten war es mal Mode, sich traumatische Erinnerungen an die einstigen Turnlehrer zu erzählen. Das war offensichtlich eine andere Feuilletonistengeneration. Hiermit sei angeregt, die Traumaerzählungen eher aus den Bereichen Kunst- und Musikpädagogik zu schöpfen. Die Sportlehrer waren in Ordnung.

In Leipzig beschäftigt sich gerade ein ganzer Kongress mit der „ästhetischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen“. Den Pressemitteilungen kann man entnehmen, dass der Kongress diese ästhetische Erziehung prinzipiell und immer gut findet. So können die Meinungen auseinander gehen. Vielleicht sind die Kunstlehrer inzwischen aber auch anders drauf.

Der Bundespräsident war auch auf der Tagung. Er sagte: „Zu unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis sollte gehören, dass Kultur eines der Güter ist, auf die Kinder genauso Anspruch haben wie darauf, Schreiben, Lesen und Rechnen zu lernen.“ Dann wurde der erstmals vergebene Zukunftspreis Jugendkultur gleich an sechs Preisträger verliehen. Darunter an die Kindergruppe „L’Art pour l’Art“ aus Winsen an der Luhe, die mit Musik experimentiert, so die Pressemitteilung. Musiklehrer zumindest sind inzwischen offensichtlich wirklich anders drauf. Wir mussten damals die Musicals „Hair“ und „Jesus Christ Superstar“ analysieren.

Neulich war ich mal dabei, als im Hamburger Bahnhof, dem Berliner Museum für Gegenwartskunst, Kinder und Jugendliche an die „Arbeiten“ von Joseph Beuys herangeführt werden sollten. Die Museumspädagogin sagte tatsächlich „Arbeiten“. Joseph Beuys „Ansatz“ erklärte sie anhand einer vom Künstler „geschaffenen“ „Arbeit“, die aus einer Schultafel bestand, auf der viele Wörter und Striche zu sehen waren. Das entspricht nicht den „Erwartungshaltungen“, sagte die Museumspädagogin. Wahrscheinlich dachte sie, dass Kinder ja auch wild denken und viel mit Strichen auf Tafeln herummalen. Die Kinder waren höflich und fragten nicht, warum die Frau immer „Arbeiten“ und nicht „Bilder“ sagt. Einige Tage später schwärmten zwei der Kinder von einem Kunstlehrer an ihrer Schule. Der könne toll Sachen abmalen, sagten sie. Bei ihm sehen Rehe tatsächlich wie Rehe aus. Wie „in echt“. Womöglich hätte man bei der Heranführung an Beuys zunächst ein Foto mit Hut zeigen sollen. Das hätten sie bestimmt cool gefunden.

Zurück zum Kongress. Unser Bundespräsident hat sicher Recht, wenn er sagt, dass Kinder und Jugendliche einen frühen Zugang zu Kunst und Kultur brauchen, um sich zu selbständigen Persönlichkeiten zu entwickeln. Aber vielleicht sollte man ihnen die Chance lassen, dies in Abgrenzung zur Kunstpädagogik tun zu können. Auf einem Kongress kommt man mit so einer Ansicht aber wohl nicht so gut an. DIRK KNIPPHALS