Die Angst, neue Opfer zu zeugen

Nicht Vergessenkönnen ist der Preis des Überlebens: Der herausragende niederländische Dokumentarfilm „De Prijs van de Overleven“ zeigt im Forum, wie das Leid der Holocaust-Überlebenden auf den Alltag ihrer Kinder übergreift

Reinier ist 1954 geboren. Er arbeitet als Lehrer für Geschichte an einer niederländischen Schule. Im Unterricht wird das Dritte Reich behandelt, das für die meisten Schüler nur als Spielfilm existiert. Sie schreiben Aufsätze zum Thema, als Deckblatt benutzen sie Kinoplakate. Die Mappen stapeln sich bei Reinier auf dem Tisch. Kurz geht er die Papiere durch, bereitet das Thema für die nächste Stunde vor. Aber über seine eigene Geschichte spricht er mit den Schülern nicht.

Wie sollte er auch vermitteln, dass für ihn als Sohn eines KZ-Überlebenden die Zeit schon weit vor seiner Geburt um 1945 stehen geblieben ist? Vier Jahre wurde sein Vater von den Nazis inhaftiert, weil er ein Flugblatt verteilt hatte. Danach kehrte er zwar physisch aus Sachsenhausen zurück, doch in seiner Erinnerung blieb er im Lager. Nie wieder kam der Überlebende davon frei, nie werden die Kinder des Überlebenden von dessen KZ-Erfahrungen frei sein können. Nicht vergessen zu können ist jener Preis des Überlebens, dessen Auswirkungen Louis van Gasteren in der gleichnamigen Dokumentation nachgeht. Bereits 1969 hat der 1922 geborene Regisseur mit „Verstehst du jetzt, warum ich weine?“ einen Film über die Familie gedreht. In Rückblicken werden noch einmal Szenen dieser ersten Begegnung gezeigt, der Vater leidet am posttraumatischen Stress-Symptom, das kaum therapierbar ist, auch LSD schlägt nicht an.

Gleichwohl stehen die behutsam geführten Gespräche in einem schwer fassbaren Gegensatz zu der familiären Atmosphäre, von der sie handeln: Allmählich ging das erlebte Leid, das der Vater nicht durcharbeiten konnte, in der Alltagsroutine auf seine Familie über. Geredet wurde wenig, auch weil jedes Gesprächsthema zurück in die Erinnerungen an das KZ führte – so wollte es die Erziehung nach Sachsenhausen, zu der es, so van Gasteren, keine Alternative gab: „Die Eltern dieser Menschen haben ihre Kinder fortwährend mit der Vergangenheit belastet. Andere Eltern zogen es vor zu schweigen. Aber der Druck und die Belastung bleiben.“

Die Folgen sind entsprechend verheerend. Die Tochter und einer der beiden Söhne wenden sich komplett von ihrem Vater ab; die Mutter erklärt, dass ihre Beziehung nach 45 nur noch solidarischen Charakter hatte – „Liebe war es jedenfalls nicht“; und Reinier lebt mit seiner Frau in kinderloser Ehe aus Angst, dass auch er die Unfähigkeit, das Lager zu vergessen, an den eigenen Nachwuchs weitergeben könnte. Auf keinen Fall will er „neue Opfer erzeugen“.

Im Gegenschnitt zeigt der Film die letzten Überlebenden, die sich jährlich in Sachsenhausen treffen. Hier wird Reiniers Mutter in einer langen, unerträglich einträchtigen Szene auch die Asche ihres Mannes verstreuen: weil er doch diesen Ort niemals verlassen hat. Nun soll er seine letzte Ruhe finden, wo all die anderen vor ihm starben, derentwegen er nicht vergessen konnte. Man hört sie hilflos weinen, sieht für Minuten zu, wie die Asche in der eisigen Landschaft verweht, und man weiß, dass es spätestens mit diesem Bild für einen selbst auch kein Vergessen mehr geben wird.

Tatsächlich ist „Der Preis des Überlebens“ kein Plädoyer für einen Schlussstrich, sondern eine Ergänzung zum Holocaust-Diskurs. Denn die Diskussion über Symbole und Gedenken scheint von dieser einen Wirklichkeit abgekoppelt zu sein: die absolute Unhintergehbarkeit des beschädigten Lebens. Insofern kommt van Gasterens Film der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus nahe, gerade weil er ihre Verzweiflung ernst nimmt und als Leerstelle im Leben aller Beteiligten zeigt. Darin sind auch die Überlebenden von Generation zu Generation vereint.

HARALD FRICKE

Samstag, 12.00 Uhr, Delphi