Bin ich Rotkäppchen?

Gehen in sonnendurchfluteten Wäldern: Als Frau allein im Wald

Jedes Mal dasselbe Spiel. „Sind Sie etwa ganz allein?“ Eine Frage wie eine Drohung, so mitten im Wald. Mir begegnet eine Wandergruppe, und ein mutiger Mann schert aus und stellt mich zur Rede, als wolle er mir den Wald verbieten. Will er vielleicht auch. „Haben Sie keine Angst, so als Frau, so ganz allein?“ Diese Ansprache nervt. Bin ich vielleicht Rotkäppchen? Automatisch fallen mir die Grimm’schen Märchen ein. Jede Menge Horrorgeschichten, die vorzugsweise im Wald spielen.

Die bösen Träume meiner Kindheit – ohne Zweifel eine Folge allabendlichen Vorlesens Grimm’scher Märchen, in denen Mädchen immer übel mitgespielt wurde, wenn sie aus der Reihe tanzten. Himmel, wie froh ich bin, im Wald meine Ruhe zu haben, weit weg vom Alltagstrott, den Verbindlichkeiten und Verantwortlichkeiten. Gehen in lichten und sonnendurchfluteten Wäldern, das ist Wellness vom Feinsten, das macht den Kopf frei, das mobilisiert die Energien. Bis die nächste Wandergruppe auftaucht. Es ist vorgekommen, dass ich, aus meiner guten Laune gerissen, aggressiv wurde und dem Frager seine Unverschämtheit auf den Kopf zugesagt habe. Die Unverschämtheit nämlich, mich als Frau allein im Wald zu belästigen.

Auch Frauen stellen solche Fragen. Allerdings nicht im Wald. Immer wieder fragen mich Wirtinnen, bei denen ich übernachte. Manchmal tue ich ihnen den Gefallen und sage: „Ja, ich habe Angst, so ganz allein im Wald.“ Und winde mich wortreich in Erklärungen. Mein Mann musste die geplante Tour plötzlich absagen, behaupte ich etwa. Dann schlägt die Stunde der Wirtinnen, die einer wie mir, die abends glücklich ihr Bier schlabbert, ihre privaten Dramen auftischen. Oh ja, die Füße wollen nicht mehr, das sagen sie immer. Wandern? Das sei nichts für sie. Ich höre mir ihre Lebens- und Leidensgeschichten an. Es sind brave Frauen, denen der Grimm’schen Logik zufolge mindestens ein Goldtopf, wenn nicht der Prinz zusteht.

Nur eine Ausnahme ist mir bisher begegnet. Es war eine Wirtin in einem winzigen fränkischen Dorf. Sie beobachtete mich lange. Wenn ihr Blick auf meine Wanderschuhe fiel, schien es in ihrem Kopf zu arbeiten. Ihr Mann sei pflegebedürftig, erzählte sie schließlich, eine schwere Depression. Und sie selbst sei eigentlich auch fertig. Die viele Arbeit. Unter Mühen schlurfte sie in die Küche und an den Tresen. Aber dann rückte sie mit ihrer Idee heraus: Mit dem Auto wolle sie morgen früh bis in den Wald fahren. Und dann einfach mal gehen. Vielleicht eine Stunde lang oder auch zwei. Luft holen. Durchatmen. Das wäre doch schön!

Ich war baff. Mir war, als hätten die Grimms im Grab gezuckt. Wahrscheinlicher ist, dass diese Frau nie viel von Märchen hielt.

CHRISTEL BURGHOFF