Für und wider den Geniekult

Der Moderne wäre vielleicht mancher überzogene Künstlerkult erspart geblieben. Wären Kants Überlegungen zur Disziplinierung der Einbildungskraft ernster genommen und nicht nur immer wieder die Passagen über das Genie zitiert worden, wonach „es nicht in seiner Gewalt hat“, was ihm einfällt

In der vorkritischen Phase schrieb Kantnicht zuletzt überden roten Planeten Die „freien Ausschweifungen“sind eine Entehrungder Weltweisheit

VON WOLFGANG ULLRICH

Alles spricht zur Zeit über den Mars. Also muss auch hier zuerst davon die Rede sein. Und das fällt nicht einmal schwer. Aus lauter Ehrfurcht vor Kant und seiner kritischen Philosophie wird nämlich gerne vergessen, dass er auch eine so genannte vorkritische Phase hatte, in der er nicht zuletzt über den roten Planeten schrieb. Das war vor fast genau 250 Jahren. „Von den Bewohnern der Gestirne“ hieß der Anhang seiner „Allgemeinen Naturgeschichte“, die Kant 1755 dem Preußischen König in „Empfindung der eigenen Unwürdigkeit“ und mit dem Bekenntnis „meiner Blödigkeit“ widmete. In diesem Anhang erfährt der Leser etliches über das Leben auf den einzelnen Planeten – zum Beispiel, dass die Bewohner des Jupiter mutmaßlich in fünf Stunden schaffen, wofür die Menschen auf der Erde zwölf Stunden benötigen, oder dass die „Einwohner“ der Venus einen „gröberen Bau“ haben und auch intellektuell ziemlich plump sind, weshalb bei ihnen „ein Grönländer oder Hottentotte ein Newton sein würde“.

Der Mars nimmt für Kant eine Sonderstellung ein, da er „vielleicht“ der einzige Planet neben der Erde ist, auf dem die Bewohner die „unglückliche Fähigkeit“ haben, „sündigen zu können“. Die Wesen, die auf den sonnenferneren Planeten leben, dürften nämlich wegen der geringeren Wärme eine immateriellere und vergeistigtere Konstitution haben, sind daher aber auch „zu erhaben und zu weise, um sich bis zu der Torheit, die in der Sünde steckt, herabzulassen“. Die Bewohner der sonnennäheren Planeten hingegen sind so starken Energien ausgesetzt, dass sie keine eigenen entfalten müssen; deshalb jedoch sind sie „zu fest an die Materie geheftet und mit gar zu geringen Fähigkeiten des Geistes versehen, um die Verantwortung ihrer Handlungen vor dem Richterstuhle der Gerechtigkeit tragen zu dörfen“. Sünde ist nur da möglich, wo Vernunft und sinnlich-materielle Verfasstheit aufgrund einer mittleren Entfernung zur Sonne ungefähr gleich stark ausgeprägt sind.

Auch der vorkritische Kant war allerdings kritisch genug, um nach der „Grenze“ zu fragen, „wo die gegründete Wahrscheinlichkeit aufhöret und die willkürlichen Erdichtungen anheben“. Er war sich bewusst, dass er auf der Basis weniger Prämissen deduzierte, wenn er sich über die Bewohner ferner Planeten äußerte. Er räumte sogar ein, es sei „nicht notwendig, zu behaupten, alle Planeten müssten bewohnt sein“, obwohl er einschränkte, dass es „eine Ungereimtheit wäre, dieses, in Ansehung aller, oder auch nur der meisten, zu leugnen“. Gott hätte sich damit ja keinen Gefallen getan, da sein Schöpfungswerk dann in weiten Teilen nicht bewundert werden könnte, es also zu viele Regionen gäbe, „die nicht (…) zu dem Zwecke der Natur, nämlich der Betrachtung vernünftiger Wesen, genutzet würden“.

Kants Mutmaßungen über die „Bewohner der Gestirne“ sind ein wunderbares Beispiel seiner Einbildungskraft, auch wenn er selbst sich gegen diese Einschätzung verwahrt hätte und „freie Ausschweifungen“ als Entehrung der Weltweisheit verurteilte. Er wähnte sich also durchaus noch diesseits der „Grenze“ und distanzierte sich ausdrücklich von einem Maler, der „in der Abbildung der Gewächse oder Tiere unentdeckter Länder der Phantasei könne den Zügel schießen lassen“. Dabei war Kant berühmt dafür, wie lebendig und detailliert er über Orte und Länder dozieren konnte, die er selbst nie gesehen hatte. Egal ob er über St. Peter in Rom oder die Topografie der Mongolei sprach: Immer hatten seine Hörer den Eindruck, Kant berichte von persönlichen Erlebnissen – und er wagte sogar denjenigen zu widersprechen, die aus den Ländern kamen, über die er sich ausließ. Ebenso belegen Anekdoten seine enorme – und durchaus tollkühne – Imaginationsfähigkeit. Als auf einer Party einmal ein junger Leutnant Rotwein auf dem Tischtuch verschüttete und sich dafür vor seinem Offizier schämte, goss Kant kurzum noch etwas Wein dazu, malte Linien damit und integrierte so die Flecken in ein Schaubild, das Truppenbewegungen darstellen sollte, über die man sich gerade unterhielt.

Ja, man könnte über Kant einen durchaus amüsanten Kostümfilm drehen, in dem er ähnlich ausgelassen und spleenig auftritt wie Mozart in Milos Formans „Amadeus“. Und man könnte ihn damit als typisches Genie darstellen, würde ihm aber nur gerecht, wenn man auch zeigte, wie wenig er selbst sich über seinen Witz und seine Fantasie definierte, ja wie sehr er diesen Fähigkeiten misstraute. Kants philosophischen Impetus, sein Streben nach einer klaren Trennung zwischen Wissenschaft und Spekulation könnte man sogar gerade damit erklären, dass er den Drang zur bloßen Imagination, den er von sich selbst nur zu gut kannte, ja dass er die Lust auf das Ersinnen von Gedankengebäuden aller Art streng begrenzen wollte.

In der letzten der drei Kritiken, der „Kritik der Urteilskraft“ (1790), setzte Kant zwar der Einbildungskraft ein Denkmal, indem er ihre Bedeutung gerade auch für die (wissenschaftliche) Theoriebildung aufzeigte, brachte aber zugleich seine Vorbehalte gegenüber einem zu flotten Umgang mit der Fantasie zum Ausdruck. Insofern ist die „Kritik der Urteilskraft“ das persönlichste Buch Kants, beinahe eine intellektuelle Autobiografie, da er nirgendwo sonst seinen eigenen Konflikt zwischen Einbildungskraft und Verstand, zwischen Fabulierlust und Wissenschaftsethos, zwischen Genie und Professor so deutlich zur Sprache brachte. Thomas Manns Künstler-Bürger-Thematik ist hier bereits in höchster Differenziertheit angelegt.

Im Zuge seiner Analysen des Kunstschönen und seiner Definition des Genies würdigt Kant die Einbildungskraft zuerst als „sehr mächtig (…) in Schaffung gleichsam einer andern Natur“. Und weiter: „Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt.“ Wird es langweilig, schweifen die Gedanken ab, der Geist beschäftigt sich mit sich selbst und produziert dabei je nach Veranlagung Nonsens, einen guten Einfall oder, im Fall des Künstlers, eine „ästhetische Idee“, worunter Kant eine Vorstellung versteht, „die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgendein bestimmter (…) Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“. Mit anderen Worten: Die Einbildungskraft entdeckt eine sprachliche Wendung, eine ungeahnte Sichtweise auf ein Phänomen oder die Idee für ein Gemälde, welche jeweils eine „Menge von Empfindungen und Nebenvorstellungen rege macht“ und damit den Geist weiter belebt. Wer es vermag, dieser „ästhetischen Idee“ Gestalt in einem Werk zu verleihen, wird mit ihrer stimulierenden Qualität sein Publikum anstecken und dessen Einbildungskraft „einen Schwung geben“, schließlich Bewunderung finden sowie als Genie verehrt werden. Man sieht, der Topos von der Vieldeutigkeit und Unausschöpflichkeit des Kunstwerks, das Staunen über das unergründlich-geheimnisvolle Wirken des Genies hat hier seinen Ursprung.

Allerdings: Wie weit Kant von einem Geniekult entfernt ist, wird schon wenige Seiten später deutlich, wenn er davor warnt, dass die Einbildungskraft „nichts als Unsinn hervorbringt“, wenn sie nicht in ihre Schranken gewiesen wird. Und im Bereich der Kunst liefert der Geschmack diese Schranken, ein Set an gesellschaftlichen Normen, die zu verletzen nicht nur Ärger einbringen kann, sondern auch auf Kosten der Schönheit geht, die für Kant – da bleibt er einer höfisch geprägten Welt verpflichtet – die wichtigste Qualität der Kunst ist. Ausdrücklich spricht er von der „Disziplin des Genies“, durch die der Künstler nicht nur „gesittet oder geschliffen“ wird, sondern seine Ideen auch „haltbar, eines dauernden zugleich auch allgemeinen Beifalls, der Nachfolge anderer und einer immer fortschreitenden Kultur fähig“ macht.

Man beachte: Kein Wort vom Leiden des Genies an der Gesellschaft, kein Mitleid mit den unverstandenen Künstlern, kein Verständnis Kants für Gesten der Provokation und Tabuverletzungen! Ganz im Gegenteil, nur der Künstler verdient seiner Meinung nach Anerkennung, der sein Genie zu zügeln versteht und seine Werke dem Common Sense anpasst: Kunst muss öffentlich diskutierbar sein und gesellschaftlich allgemein akzeptierten Standards genügen. Vor allem muss sie danach kritisierbar sein, ob sie bestimmte Kriterien erfüllt, die nicht etwa der Künstler in Selbstherrlichkeit festlegt, sondern die aus Tradition gewachsen sind und dank deren Verbindlichkeit es sogar so etwas wie einen Fortschritt, ein Kumulieren von Fähigkeiten, eine allmähliche Verfeinerung der Kultur insgesamt geben kann.

Wären diese Überlegungen in der Nachfolge Kants ernster genommen und nicht nur immer wieder nur die Passagen über das Genie zitiert worden, wonach „es nicht in seiner Gewalt hat“, was ihm einfällt, wäre der Moderne vielleicht mancher überzogene Künstlerkult erspart geblieben. Dann wäre jemandem wie Nietzsche, der das Genie pathetisch und martialisch als Raubtier und „frohlockendes Ungeheuer“ definierte, das „von Zeit zu Zeit (…) wieder in die Wildnis zurück“ müsse, zumindest widersprochen worden. Neben einer einseitigen Propaganda für die Missachtung aller Regeln, für Ausnahmezustand und für Originalität hätte es eventuell sogar Platz für eine Kunst gegeben, die sich primär als urban und zivilisiert, als moderat und vermittelnd, als antielitär und durchaus auch als ein bisschen dekorativ verstanden hätte. Und dann wäre auch stärker anerkannt worden, was oft etwas unterzugehen droht, nämlich dass Kant der letzte große Philosoph mit einem Sinn für eine Kultur war, die sich nicht primär aus Widerstand und Gewaltfantasien speist, sondern die aus dem Bedürfnis erwächst, ein gemeinsames Fundament der Menschen durch Rekurs auf den allgemeinen Geschmack bewusst zu machen. Zu guter Letzt wäre Kant dann nicht bloß ehrfürchtig als sinnenferner, reiseunlustiger, überpünktlicher Rationalist geachtet, sondern gerade auch wegen seiner „Disziplin des Genies“ geschätzt worden, in der er wohl alle übertraf.