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: Mit dem ganz großen Hammer vernietet: Die Erzählstränge in „Wir“

Die Nadel stößt in die Brustwarze, der junge Mann stöhnt, und zartbesaitete Zuschauer – wie der Rezensent – müssen schon bei den ersten Bildern des Films wegschauen! Und so scheiden sich von Anfang an die Menschen in die „Wirs“ und die „Ihrs – sowohl auf wie auch vor der Leinwand. „Wir“ steht hier für die Generation Piercing, also junge Leute, für die es selbstverständlich ist, sich Metallteile durch die Haut zu bohren. 10 von ihnen begleitet der Film einen Sommer lang in Berlin.

Jung-Regisseur Martin Gypkens hat sich dafür einfach seinen Freundeskreis angesehen und Prototypen wie den Romantiker, die Chaotische, die Begabte oder den Verzagten destilliert. Dramaturgisch wirkt das oft ein wenig diffus, denn die verschiedenen Erzählstränge werden mit unterschiedlicher Intensität verfolgt.Einige bleiben seltsam undefiniert: So ist schwer nachzuvollziehen, warum der junge Drehbuchautor Andreas plötzlich Bammel bekommt, als sein Freund Till tatsächlich Fördergelder für ihr erstes Filmprojekt erhält. Aber es mag auch an den unterschiedlichen schauspielerischen Fähigkeiten liegen, wenn nur etwa die Hälfte der Protagonisten wirklich lebendig werden. Einige kämpfen doch arg mit ihren Dialogen, während man anderen gerne durch den Film folgt, und dabei auch Patzer verzeiht. Oliver Bokern läuft zum Beispiel als der Neuankömmling aus der Provinz immer mit etwas zu großen Augen durch die Prenzlauer Szene, aber er spielt den unschuldigen Neuling so glaubwürdig und sympathisch, dass er zum heimlichen Helden wird. Frisch in Berlin zieht er in eine WG, lernt die orientierungslose Anke und die traurig verliebte Judith kennen und verliebt sich in die Metall-Künstlerin Petronella, die jedoch eine scheinbar heile Beziehung mit dem Filmstudenten Till führt. Um alle Erzählstränge am Ende zusammenzuführen, muss Gypkens im letzten Akt den ganz großen dramaturgischen Hammer heruntersausen lassen.

Und das ist schade, denn als Stimmungsbild überzeugt sein Film durchaus. Man merkt, dass da einer von seinen Lebensumständen erzählt und weiß, wie es etwa in den Kühlschränken von Wohngemeinschaften aussieht und welche Drogen bei welchen Anlässen eingeworfen werden. Alle zehn Protagonisten leben in einem Schwebzustand an der Schwelle des Erwachsenwerdens. Sie sind Narzissten, die ihre Verunsicherung hinter aufgesetzter Coolness verstecken.

Gypkens ist zum Glück so klug, dass er selber keinen allzu coolen Film gedreht hat. Durch die fast durchgängig benutzte Handkamera wirkt er eher dokumentarisch als stilisiert. Die dänischen Dogmafilme sind dabei ein offensichtliches Vorbild. Der Filmemacher durchschaut die Attitüden seiner Protagonisten, fühlt sich ihnen aber nie überlegen, denn er selber ist ja ein Teil von diesem „Wir“. Deshalb hat er sich auch selber mit hineingeschrieben: „Wir“ dürfte genau der Film sein, den die Figur Andreas schließlich drehen wird, wenn sie erwachsen geworden ist. Wilfried Hippen

Im Cinema. Termine: siehe Kinoprogramm