Nur nicht Deutschländerwurst

Stefan Gwildis singt Soulklassiker auf Deutsch. Nun ist aus dem vom Publikum geliebten Geheimtipp der Hamburger Alternativkulturszene fast ein Star geworden

VON JAN FEDDERSEN

Vor dem Frühstück musste er an die frische Luft. „Uuuh, das musste ich erst mal verdauen.“ Also raus, obwohl die Nacht eher kurz war, Kaffee von Starbuck’s gleich um die Ecke an der Friedrichstraße und spazieren gegangen, „einmal um’n Block“. Seine Freundin Lina ist schwanger – und das bewegt ihn offenbar sehr. In einem Monat sei es soweit, sagt Stefan Gwildis, „und das ging mir schon seit einigen Jahren durch den Kopf, dass ich gerne Vater werden würde, so ein kleiner Wurm, mit meiner Hilfe zur Welt gekommen, das hat schon was.“ Kam obendrein hinzu, dass er den Abend zuvor nicht mit irgendwem auf der Bühne stand – und er, der Mann, der selbst als Entertainer was zu bieten hat, nicht einmal als Hauptact. „Nee, nee, da war ich ’ne kleine Nummer, aber das war schon okay.“

Zwei Nummern nur durfte er singen, „Papa will hier nicht mehr wohn’ “ und „For Once In My Life“. Aber die mit den Funk Brothers. Nie gehört? Gwildis geht zum Büffet und sagt: „Das kann ich später erzählen: Ich habe zwei Lieder gesungen, begleitet von den Männern, die in den Sechzigern Motown gemacht haben.“ Nicht gemacht, aber sie haben den Stoff eingespielt, sie waren es, diese inzwischen eher betagten Musiker, man hörte es auch im Berliner Tempodrom, ziemlich fidele Sessionsmusikanten, die Diana Ross, Marvin Gaye, Smokey Robinson und Stevie Wonder das nötige Korsett einzogen, auf dass sie eben klangen wie sie klangen: „Mit Groove, mit Herz, mitreißend und klar“, sagt Gwildis, „das konnte ich mir nicht entgehen lassen.“

Ein wenig war es schon gegen seine Ehre: nur zwei Lieder. Mehr hat er drauf, viel mehr. Eine ganze CD hat er eingespielt mit den Klassikern der jüngeren Soulgeschichte – aber auf seine Art gecovert, nämlich auf Deutsch. So wurde aus Smokey Robinsons „Papa Was A Rollin’ Stone“ die aus der DDR-Wendezeit herrührende Geschichte vom Vater, der samt Familie aus dem Miethaus wegziehen muss, weil er nicht nur ein guter Nachbar war, sondern Blockwart, Horchposten – und Weiterträger der Stasi. Das soll doof, ja nummernschändend klingen? Tut es nicht. Kein Groove fehlt, nicht das Tempo, nicht diese gewisse Gehetztheit im Ausdruck, diese verhaltene Nervosität, in der Robinson den Motown-Klassiker eingespielt hat. Gwildis sagt: „Meine Freundin Lina hat mich inspiriert. Die kommt aus Rostock und kennt sich ganz genau aus mit solchen Geschichten.“

Man kann im Geschriebenen kaum wiedergeben, was Gwildis einzig macht unter den männlichen Stimmen deutscher Provenienz – aber auch im Gespräch, angelegentlich dieses Frühstücks im Berliner Maritim-Hotel, hat der geborene Hamburger eben diesen Sound, den er für seine Tonträger nicht wegschleifen wollte: den der weniger hübschen Gebiete der Hansestadt. Auf der Soul-CD, die vielleicht etwas zu vage „Neues Spiel“ heißt, tauchen hin und wieder Wendungen des Straßenjargons auf. Er singt also „in’n Dutt“, was das gleiche wie „kaputt“ oder „in die Tonne getreten“ oder „fürn Arsch“ heißt. Vergiss es Alter, sagt er, er könne eben die Sprache, mit der er aufgewachsen ist. Udo Lindenberg, selbst bei seinen frühen Couplets wie „Hoch im Norden“, klingt neben ihm wie ein feiner Pinkel.

Gwildis versteht nicht einmal die Frage: „Sollten Sie nicht bestimmte Ausdrücke verständlicher machen für Menschen, die nicht aus Barmbek kommen?“ Er sagt: „Ich kann das nicht, dieses Vornehme. Ich mach aus meiner Sprache ja nix Besonderes.“ Er ist mit ihr aufgewachsen, der Vater Reifenhändler in der Hammerbrooker Süderstraße, bestes Proll- und Autoschraubergebiet, die Mutter gelernte Hutmacherin, hat in Barmbek gewohnt, eher „im Beverly Hills von Barmbek“, nicht richtig proll, aber im Einflussbereich. Immerhin, später zog’s ihn nach Wandsbek und Bramfeld, auch das keine Viertel, in denen statt Kaffe Caffè latte getrunken wird.

Obwohl, dieses Getränk kennt Gwildis auch, aus der Zeit am Hamburger Hafen, direkt unter den Landungsbrücken, wo portugiesische Seeleute in den Sechzigern auf Heuer und schlechte Tarife zur See keine Lust mehr hatten und Restaurants eröffneten – „das hieß aber nicht Caffè latte, sondern irgendwie portugiesisch“. Jetzt ist dieses Viertel dominiert von den Gehaltsempfängern des Presseimperiums von Gruner & Jahr – und keineswegs mehr Gwildis’ Nachbarschaft. „Nee, nix gegen Werber, gibt auch nette Menschen, aber wenn die mal aus’m Geschäft sind, ist der Wind aus den Segeln.“ Heißt: keine Substanz, „mir ist mehr nach Leuten, die noch so geerdet sind, die wissen, was sie tun und Sachen machen, die ihnen Spaß machen, weil es ihnen Spaß macht.“ Hört sich kompliziert an, was ja nur heißen soll, dass er lieber anderer Leute Reifen aufzieht als den Jinglefuzzi zu geben. Sein Credo: „Lieber spiel ich auf der Spitalerstraße mit meiner Gitarre, als dass ich meine Stimme für ’ne Deutschländerwurst hergebe.“ Die Clementine, also Johanna König, erinnert er sich, „die ist ’ne gute Schauspielerin, hab ich gehört, aber ewig die Waschmitteltante zu geben, das hat die bestimmt genervt.“

Kompromisse aber müssen sein, und am Abend zuvor war er einen eingegangen. Zwei Lieder nur mit den Funk Brothers, eines zudem, das er am Nachmittag erst einstudieren musste, „nicht den Groove, aber den Text, wo ich doch nie auf Englisch singe“, sagt Gwildis. Die Funk Brothers waren freundlich, aber nicht zu erweichen. Stevie Winwood hatte „What’s Goin’ On“ von Marvin Gaye schon Tage zuvor gebucht – da hatte Gwildis nur noch „Papa Was A Rollin’ Stone“ als Motown-Marke im Angebot.

„Die sind ganz schön picky“, sagt er, „Motown spielen die tipptopp vom Blatt, perfekt als wären sie im Studio – aber zieht man denen die Noten weg …“ Sollte er zickig sein? „In Hamburg“, sagt er nun am Morgen danach, „muss mehr drin sein“, denn Hamburg ist ja sein Heimspiel, und da können doch, so darf zwischen seinen Worten gelesen werden, die Heroen aus Detroit froh sein, wenn sie mit Gwildis angeben können. Denn dort macht der Hamburger die Säle voll, da kennt man ihn, da darf er fette Hosen tragen.

Der Mann hat keine schlechte Karriere hinter sich, vor allem in Hamburg. Urgestein der dortigen Alternativkulturszene. Livemusik schon während der Schulzeit am Matthias-Claudius-Gymnasium, später freies Theater – „alles, was mir in den Weg kam“, sagt er, „und alles, was am Ende mein Weg gewesen sein wird“. Also in allen Häusern gespielt, die für die andere, weniger repräsentative Kultur maßgebend sind. Hat Musicals geschrieben und Lieder, als Schauspieler gearbeitet und Stücke entworfen. Zwischendurch immer gejobbt, mal bei seinem Vater, dann wieder bei anderen. Keine Noten gelernt und doch auf der Gitarre alles im Griff. „Bob Dylan hat mal gesagt, wenn du was zu sagen hast, stell dich hin und sag es.“ Und was hat Gwildis zu sagen? „Kleine Geschichten. Das ist die Kunst, die kleinen Geschichten dicht zu erzählen.“

Seine Mutter, erzählt er, hatte fünf LPs. Eine war von Rudolf Schock, eine erinnert er nicht mehr, aber drei waren von Hildegard Knef: „Die ist mein großes Vorbild. Wahnsinn. Ein komischer Kauz, ooh ja. Viel Nackenschläge gekriegt, viel zurückgesteckt und immer wieder aufgerappelt.“ Und er kennt ihre Songs wirklich, singt jetzt beim Frühstück etwas „Von nun an ging’s bergab“ und „Aber schön war es doch“ an und lobt überschwänglich „dieses Timing, dieses Verschleppte – und doch immer zu wissen, wo man im Lied gerade ist.“

Jedenfalls, die dicken Entwürfe waren nicht so sein Ding, Weltverbesserung, mehr „so’n Kram wie die Liebe“, der Kummer mit ihr, das Verzehren nach ihr und die winzigen Happyends, die erhofften und gelungenen. Gwildis hat sie tatsächlich im Repertoire. Selbst Otis Reddings „Sittin’ On The Dock Of The Bay“ kommt bei Gwildis nicht als Bückling vor dem Stoff rüber, als szeneastische Verbeugung vor einem musikalischen Stil, den die Weißen, selbst in den USA, erst zur Kenntnis nahmen, als es gar nicht mehr zu vermeiden war.

Gwildis’ Interpretation darf als gültig gelten, denn vor der Musik, „von der ich besessen bin, seit ich Musik höre, als sie endlich im Radio lief“, vor „dieser Musik hatte ich schon Manschetten“, zu Deutsch: „Respekt und Liebe“. Die melancholische Attitüde Reddings war ja gut zu übernehmen, Gwildis macht daraus keinen Hehl, denn Hamburg, „dieser Geruch aus Schiffsdiesel und Möwenkacke, den kenn ich gut“.

Wobei derlei street credibility, Glaubwürdigkeit der Straße, nicht eben viel zählte: Erst in den späten Achtzigern kam Hamburgs modische Jugend vom Trip herunter, alles irgendwie politisch nehmen zu müssen. Gwildis war ja nie ein Mann des Undergrounds, kein Punk, kein Welterklärer im Subito, nix da mit no future, so wenig Selbstachtung hatte er nie, immer „down to earth“, dass er sich mit Nischen zufrieden hätte zufrieden geben wollen. Schwarze Musik, das war sein Ding, „und ist es noch“.

Keine Ahnung, aber ich musste ja früh ’ne Familie ernähren“ – seine frühere Lebensgefährtin brachte zwei Kinder mit – „und da musste ich Geld verdienen.“ Irgendein Sammelsurium der gängigen Stile füllte schließlich sein Repertoire. Einen ersten Plattenvertrag stornierte er und zahlte gar den Vorschuss zurück: Es wollte sich nichts aus einem Guss ergeben. Erst die Soulgeschichten brachten den Erfolg, wobei die Idee erst mit der Adaption von Bill Withers’ „Ain’t No Sunshine“ ihren Lauf nahm: „Allem Anschein nach bist du’s“, fand sein Plattenlabel so wunderbar, dass daraus mehr werden durfte.

Hätte ja auch schiefgehen können mit der Musik der Schwarzen. Von der Gwildis sagt, sie hätte „einfach Groove, die geht in’n Bauch, direkt, ohne Umweg. Europäische muss man immer verstehen, Bach, Beethoven, Händel.“ Respekt, sagt er, jeden nachgefühlten Respekt für die Schwarzen, die „sich den Arsch abgearbeitet haben, ehe sie politisch Gehör fanden“. So ein Lied wie Marvin Gayes’ „What’s Goin’ On“ ist ja kein Schlager, „mit so’m Gedüdel konnte ich nie was anfangen“, da ging es um mehr, „dass man nicht wie die Weißen im gleichen Bus fahren durfte oder die gleichen Schulen besuchen“.

Plötzlich spricht er über Muhammad Ali und dass der seine Karriere riskierte, als er den Einsatz in Vietnam verweigerte: „I ain’ no problems with the Vietcong“, sagte der, „ich habe keine Probleme mit dem Vietkong.“ Und Gwildis ist nicht so vermessen, sich an solchen moralischen Standards messen zu wollen, aber es spricht ja auch nicht gegen ihn, dass er sich solcher Anekdoten versichert, um „von meinem eigenen Weg nicht abzukommen“. Kann er, immerhin schon in den Vierzigern, diesen Erfolg genießen? Der NDR hat ein Special über ihn gedreht, das ihn als außergewöhnlich charmante Rampensau zeigt, weil er seinen Kombattanten, Instrumentalisten oder Chorsängerinnen, jede Chance zum Glänzen lässt. Seine Konzerte finden mittlerweile auch jenseits von Hamburg in größeren Sälen statt, und Jürgen von der Lippe hat ihn (O-Ton: „geile Stimme“) neulich in seiner ARD-Show „Lippe blöfft“ gern vorgestellt.

Nein, Gwildis winkt ab. „Ich kann mich freuen, aber ich bin zu alt, um übergeschnappt zu reagieren. Ehrlich gesagt, das ist alles toll, aber mein Baby kommt demnächst, und das macht mich doch ein bisschen mehr an.“

Macht es ihn andererseits an, dass in seinen Konzerten auffällig viele Frauen jenseits der 25 ihm applaudieren? „Hab ich so nich gemerkt. Aber ist schön, ja.“ Dass man sein Gesicht erinnert, weil es dem George Clooneys ähnelt? „Is mir egal.“ In Berlin, mit den Funk Brothers, muss er gemerkt haben, dass dort in erster Linie Reinheitswächter des Soul im Publikum saßen, jedes Stück abklopfend, ob es wirklich im Sinne der Musikfabrik aus Detroit überliefert wird. Niemand da, der den Hamburger wiedersehen wollte, weil der kurz zuvor beim „Maulhelden“-Festival am gleichen Ort seine ziemlich gute Autoshow vorführte. Mit Christian von Richthofen, noch so ein Großer im Kleinkunstgewerbe, baut er perkussiv sinnvoll ein Auto auseinander. Gwildis wurde höflicher Applaus auf die Bühne geschickt – dabei war er gut, auch wenn Stevie Wonders „For Once In My Life“ etwas mehr Intensität, mehr womöglich biografisch grundierte Schärfe vertragen hätte: Eines Tages …

Doch als er die Story vom Stasi-Mann erzählt, der wegziehen muss, weil seine beste Zeit nun hinter ihm liegt, nickten wenigstens einige im Saal, wenn auch mit einer Mischung aus Verstörtheit und Irritation. Es muss ihn nicht kratzen. Vor den Schritten auf die Bühne klopften ihm einige Funk Brothers ziemlich anerkennend auf die Schulter: „Good voice, man“ und „don’t be afraid, you’re really okay“: keine Angst, Mann, alles wird gut! Komplimente, die ihm gezollt worden wären, wenn er Zicken gemacht hätte? „Nur zwei Lieder, hab ich dann gedacht, na, das ist besser als gar keins.“

Zum Schluss erzählt er abermals, wie sehr ihn Hildegard Knef beeindruckt hat. „Die konnte mit kleinen Geschichten fesseln. Man hörte ihr zu.“ Die konnte auf der Bühne stehen: „Ich weiß noch, wie sie mal im Tivoli war“, zu Gast bei der wichtigsten Hamburger Alternativbühne, „die stand da und hatte eine Ausstrahlung.“ Kann er erklären – was das ist, Ausstrahlung? Er trinkt noch einen Schluck Kaffee, guckt auf sein Handydisplay, ob seine Lina ihm Neuigkeiten vom Nachwuchs gesimst hat, und sagt: „Die kriegt man, wenn man aufgepasst hat, wenn man mit Respekt und Akribie sich selbst begegnet und sich nicht verbiegen lässt. Und versucht, immer gute Arbeit zu machen.“ Aber man müsse „das ganze Dickicht des Lebens“ mal durchschritten haben, vielleicht mit Furcht, doch ohne je aufzugeben. „Man muss sich ernst nehmen – und das spüren die Leute, dass man nichts spielt, wenn man auf der Bühne steht.“

Sagt’s und guckt, als wüsste er immer noch nicht, ob er den Abend mit den Funk Brothers auch wirklich erlebt hat.

JAN FEDDERSEN, 46, taz.mag-Redakteur, schwört seit Mitte der Sechzigerjahre auf Motown-, Stax- und Phillysound-Tonspuren