Zweifel? Nie gehabt!

Bei der Vorstellung seiner „Erinnerungen“ wird der Altkanzler wieder ganz präsent: Beschützt und beschirmt von einem beeindruckenden Körperpanzer und mit ungeheurer Verdrängungskraft begabt
VON DIRK KNIPPHALS

Helmut Kohl offenbart keinen Grund, sich zu bewegen. Nirgends

Das Buch ist voluminös. Der Autor ist noch voluminöser. Im Berliner Hotel „Hilton“ sitzt Helmut Kohl zwischen seinem Verleger und seinem Büroleiter, und diese Dreierkonstellation möchte einem ziemlich pyramidal anmuten: Vom linken Nebensitzer führt eine steile Linie bis zu Kohls inzwischen schlohweißem Haupthaar in der Mitte, und von dieser alles überragenden Höhe aus bricht die Linie über den rechten Nebensitzer wieder steil nach unten ab. Sobald man unseren Exkanzler mal wieder leibhaftig vor sich sieht, wird einem schlagartig klar, dass er die Zeitläufte und die Geschicke dieses Landes allein schon von seiner Statur her von einer komfortablen Höhe aus überblickt haben muss – und beschützt und beschirmt von einem beeindruckenden Körperpanzer auch.

Wo Kohl draufsteht, ist auch Kohl drin. Das war schon so, als Helmut Kohl noch die Lachfigur der deutschen Linken war. Das ist auch an diesem Donnerstagvormittag so, als es an die Vorstellung seiner Lebenserinnerungen geht. Die Verdrängungskraft dieses Menschen ist immer noch enorm – wobei man dieses Wort im doppelten Sinne gebrauchen kann. Zum einen geht es um die rein körperliche Verdrängung. Zum anderen um die intellektuelle. Zweifel? Nie gehabt! Das drückt Kohl mit seinem ganzen Dasein aus. Zumal er dem ersten Anschein nach den Selbstreflexionsanmutungen, die das Verfassen von Memoiren im bürgerlichen Selbstverständnis an berühmte Menschen stellt, nur bedingt nachgekommen ist. Er wolle hier „meine Sicht der Dinge“ darstellen, sagt Helmut Kohl, nicht: Er wolle sich selbst auf den Grund gehen. Nachdem er seinen angemessenen Platz in der Geschichte eingenommen hat, strebt er nun nach einem angemessenen Platz im Bücherregal.

Zur Präsentation herrscht großer Auftrieb. Aber kein wirklich ganz großer. Die mediale Nachbearbeitung der Kandidatenkür in der CDU zum Amt des Bundespräsidenten zieht denn doch einige Aufmerksamkeit der politischen Korrespondenten ab. Zu Horst Köhler hat Helmut Kohl eine Erklärung vorbereitet: „in hervorragender Weise für das Amt geeignet“, „freundliches Wesen“. Das liest er vor. Die Versuche, ihn aufs Glatteis zu locken, bremst er danach souverän aus.

Die Entfremdung von seiner Partei, die aus der Spendenaffäre herrührt, hat er inzwischen auch ausgesessen. Apropos: Dies Thema werde im zweiten Teil seiner Memoiren vorkommen, den er für den April 2006 ankündigt. Die Namen der Spender werde er aber dort auch nicht nennen.

So ist das bei allen angesprochenen Themen: Helmut Kohl offenbart keinen Grund, sich zu bewegen, nirgends. Als jemand wissen will, ob Herr Kohl auch Fehler gemacht habe, sagt der: Ja, er habe manchmal aufs falsche Pferd gesetzt. Aber das sei dann später meistens revidiert worden. Zweifel am eigenen Lebensentwurf, in den eigenen Grundeinsichten offenbart er keine. Wahrscheinlich kommt ihm schon die Frage „absurd“ (eins seiner Lieblingswörter) vor.

In der FAZ ist vergangene Woche zur intellektuellen Rahmung des Buchereignisses geschrieben worden, dass bei Helmut Kohl gerade das „Fehlen jeglichen Inszenierungswillens“ auffällt. Jetzt kann man erfahren, warum der fehlt. Wer sich inszenieren zu müssen glaubt (also eigentlich jeder Mensch außer Helmut Kohl), muss zumindest einen kleinen Spalt lassen zwischen Schein und Sein, zwischen Wesen und Erscheinung. Helmut Kohl aber ist Granit: In dieser voluminösen und nun Geschichte gewordenen Gestalt ist keine Stelle, an die man herankommen könnte.

Helmut Kohl: „Erinnerungen 1930–1982“. Droemer Verlag, München, 684 Seiten, 28 €