Ein paar Tage im April

Keinen Gegner muss George W. Bush mehr fürchten, nicht Michael Moore, nicht Susan Sontag. Nur einer kann den US-Präsidenten an der Wiederwahl hindern: John F. Kerry. Denn der Kandidat der Demokraten war in Vietnam, schloss sich in der Heimat aber der Antikriegsbewegung an. Ein Blick zurück auf tapfere Zeiten

VON ROBERT MISIK

Der Raum war voller Spannung, wie das oft der Fall ist, wenn alle Beteiligten wissen, dass nun ein bedeutendes – vielleicht sogar historisches – Ereignis folgt, und doch völlig unklar ist, was genau geschehen wird.

Der Tagungsraum des Außenpolitischen Ausschusses des US-Senats war an diesem 22. April 1971 bis auf den letzten Sitzplatz besetzt. Links und rechts waren TV-Kameras aufgefädelt. Die Antikriegsbewegung sollte an diesem Tag im Zentrum der Macht ankommen – in den heiligen Hallen des Kongresses. Jener Flügel der Demokratischen Partei, der für ein Ende des Vietnamkrieges votierte, hatte sich dafür entschieden, der Protestbewegung eine Bühne zu bieten.

Noch in der Nacht hatte Senator Ted Kennedy hundert Besucherausweise für Aktivisten der „Vietnam Veterans Against the War“ (VVAW) gestempelt und unterschrieben, und die meist langhaarigen, aus proletarischen Verhältnissen stammenden Jungs, die sich in einem sinnlosen Krieg verheizt fühlten und sich nach ihrer Rückkehr ihren rebellierenden Generationsgenossen anschlossen, füllten sichtbar die hinteren Reihen des Sitzungssaals. Die republikanischen Senatoren schäumten. Bis zuletzt war offen, ob sie überhaupt zulassen würden, dass der Mann, den die Demokraten als Zeugen nominiert haben, zu Wort kommen dürfe.

Was würde der Ausschussvorsitzende tun? Würde er dem 27-jährigen Navyoffizier John Forbes Kerry das Wort erteilen oder entziehen? Es war totenstill, als Senator William Fulbright anhob: „Mr. Kerry, könnten Sie bitte das Mikrofon zur Seite schieben.“ Ein Augenblick verging. War das schon das Redeverbot? Doch nachdem Kerry der Bitte entsprochen hatte, beugte sich Fulbright nach vorn und fragte: „Wie viele Auszeichnungen haben Sie da? Sehe ich da einen Silbernen Stern und einen Bronzenen und drei Purpurne Herzen hinter dem Mikrofon versteckt?“

Damit war klar, dass das Senatskomitee sich zumindest in einem einig war: Dieser baumlange, schlaksige, junge Mann, angetan in grüner Soldatenkluft, seine Auszeichnungen auf der Brust, das Haar zu der flotten Frisur gekämmt, wie sie auch John Lennon damals trug, hat nach den Maßstäben des Militärs und des politischen Establishments als Held zu gelten. Er war als Offizier nach Vietnam gegangen, hatte drei Auszeichnungen für besondere Tapferkeit und drei Verwundetenabzeichen erhalten und habe das Recht, gehört zu werden.

Und der junge Mann, der sich erst ein paar Monate vorher den VVAW angeschlossen und bisher höchstens vor achthundert Zuhörern gesprochen hatte, sollte seine Gastgeber nicht enttäuschen. Er sei hier mit Männern, die „tagtäglich Verbrechen“ begehen mussten, hob Kerry an. Die Leute, für die er spreche, haben „vergewaltigt, Ohren abgeschnitten, Köpfe abgeschnitten, Lippen abgeschnitten, Körper in die Luft gejagt, auf Zivilisten das Feuer eröffnet, Dörfer auf eine Art dem Erdboden gleichgemacht, die an die Zeit Dschingis Khans erinnert, Lebensmittellager vergiftet … Was dieses Land bedroht, sind nicht die Roten, sondern die Verbrechen, die wir begehen.“

Man sagt, so Kerry, „wir schützen Dörfer, indem wir sie zerstören“, in den Free-Fire-Zones „wird auf alles geschossen, was sich bewegt“. Wofür? Damit Nixon nicht der erste Präsident wird, der einen Krieg verliert. Und direkt an die Senatoren: „Wie können Sie einem Mann befehlen, der letzte Mann zu sein, der in Vietnam stirbt? Wie können Sie einem Mann befehlen, als Letzter für diesen Irrtum zu sterben?“

Die Sätze stehen heute in jedem amerikanischen Geschichtsbuch. Über Nacht war der Mann, der nun George W. Bush ablösen möchte, zu einer Berühmtheit geworden. Kerry war das herzeigbare Gesicht der Bewegung, unter all den bärbeißigen, zornigen Soldaten war er jener, der sich frisierte, wie junge Männer es damals taten – und obendrein reden konnte wie der verehrte Kennedy.

Einen Tag später, am 23. April zogen Kerry und seine Veteranen vor das Kapitol und warfen ihre Medaillen über den Zaun. Es war die symbolische Aktion schlechthin, die die Rechten empörte. Kerry führte sie übrigens nur symbolisch aus – es waren Orden, die ihm ein Mitstreiter zugesteckt hatte; seine eigenen bewahrte er auf. Am Ende der bewegten Woche war aus dem unbekannten Exsoldaten eine nationale Figur geworden. Kerry sprach von den Stufen des Kapitols. Diesmal waren nicht ein paar hundert dem Aufruf gefolgt. Eine Viertelmillion Demonstranten waren gekommen.

John Forbes Kerry war da einen weiten Weg gegangen und an eine Stelle gelangt, die ihm nicht vorherbestimmt war, und doch auf seltsame Weise geradlinig geblieben. Aus besten Ostküstenpatrizierfamilien stammend, erzogen an ehrwürdigen Internaten und ausgebildet an der Eliteuniversität Yale, war er Mitglied in einer Studentenverbindung gewesen, der Jahre nach ihm auch George W. Bush angehörte.

Die Welt war damals klein, zumal die Welt der einflussreichen amerikanischen Familien. Mit siebzehn Jahren war Kerry, der damals mit einer Halbschwester Jackie Kennedys eine Romanze hatte, dem damaligen Präsidenten John F. Kennedy begegnet. „Ich bin auch ein Yale-Mann“, sagte der lächelnd bei ihrem ersten Wortwechsel. Schon als Jugendlicher war Kerry, inmitten all der Jungs aus reichem Haus, ein Linksliberaler. Hielt Reden für Kennedy und Vorträge über „die Bedrückung der Neger“. Freunden vertraute er an, einmal Präsident von Amerika werden zu wollen. Seine Collegekumpel nahmen den Frühreifen dieses offenherzigen Plans wegen jahrelang auf die Schippe.

Schon Mitte der Sechzigerjahre ist Kerry ein Zweifler am Vietnamkrieg. „Ein Exzess des Interventionismus“ sei dieser Krieg, sagt Kerry in der Rede, die er aus Anlass seines Yale-Abschlusses hält. Kaum einer seiner Freunde hatte sich damals auch nur Gedanken über die ferne Verstrickung gemacht. Doch Kerry sagt: „Was hier geschieht, wird unsere Generation definieren.“

Der Antikriegsbewegung schließt sich Kerry damals, in der zweiten Hälfte der Sechziger, nicht an. Stattdessen meldet er sich freiwillig, will als Offizier in den Krieg ziehen. Er habe ja nicht den Dienst an der Waffe abgelehnt, sondern den konkreten Krieg, sagte er später einmal, außerdem wäre er ohnehin eingezogen worden. Nicht wenige meinen aber, Kerry habe schon damals kühl kalkuliert: Er war politisch ambitioniert, und eine Militärkarriere war Voraussetzung für solche Ambitionen. Kennedy, den er so bewunderte, war im Zweiten Weltkrieg bei der Marine.

Kerry, der seinerzeit mit Kennedy Segelturns unternommen hatte, meldete sich ebenfalls zur Navy. Er kommandiert Schnellboote, die im Mekong-Delta patrouillieren. Das Gebiet ist Free-Fire-Zone: Geschossen wird auf alles, was sich bewegt. Die Besatzungen der Boote, die nicht für den Kriegseinsatz konstruiert sind, sind den Hinterhalten des Vietcong ausgeliefert. Kerry, Mitte zwanzig und abenteuerlustig, spielt mit seinen Leuten ein wenig Cowboy. Nach einer spektakulären, aber erfolgreichen Aktion empfängt ihn sein Kommandant mit den Worten, er wisse nicht, ob er ihn „vors Kriegsgericht bringen oder für eine Tapferkeitsmedaille vorschlagen soll“.

Kerry ist politisch klug genug, um die Sinnlosigkeit dieses Kriegs zu ahnen, aber dennoch angesteckt vom romantischen Ideal des verwegenen Kriegers. Kaum in Vietnam angekommen, schreibt er Tagebuch, aber in einem Ton, der nichts von der Innerlichkeit des Spätpubertanten hatte. „Die Konvolute sind erstaunlich“, sagt Douglas Brinkley, ein Historiker, dem Kerry Zugang zu seinen Archiven gestattete: „Er hat in Yale Literatur studiert und wollte nun ein Mini-Hemingway werden.“

Einfach so hat Kerry nie etwas getan. Was immer er tat, ist ohne seinen glühenden Ehrgeiz nicht verständlich. Zum Ehrgeiz kamen Erfahrung und das prägende Erlebnis des Kriegs hinzu – und das des Antikriegsprotests. Amerika spaltete sich in jener Zeit. Es gab die Geschichte der Militärs. Und es gab die Geschichte des Protests. „In Kerry hat man beide Geschichten“, sagt Brinkley.

Er war der Mainstreamboy aus dem liberalen Establishment, mit besten Manieren, gutem Umgang, der die Ansprüche, die in einem solchen Milieu an eine „Laufbahn“ gestellt wurden, tief internalisiert hatte. Der diese Imperative paarte mit den romantischen Sehnsüchten des Twens, irgendetwas „Bedeutendes“ tun zu wollen. Der sich elektrisieren ließ von dem, was so Geschichte heißt. Und der, als er aus Vietnam heimkehrte, wach genug war, zu spüren, dass diesmal etwas anders ist: dass die gefeierten Veteranen nicht, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als natürliches Führungspersonal willkommen geheißen wurden, sondern als verlorene, tragische Generation.

Kerry erklomm also nicht als Kriegsheld die Bühne, sondern als Antikriegsheld. Stand plötzlich mit einem Proletensohn aus Liverpool Schulter an Schulter bei Friedensdemonstrationen. John Kerry und John Lennon. Jeder auf seine Weise ein Popstar. Kerry war kompatibel mit den Energien dieser Ära – persönlich waren seine Haltungen aber nicht von dem Sex-drugs-and-rock-and-roll-Ethos der Sechzigerjahre geprägt.

Man kann das opportunistisch nennen. Oder sagen, dass da jemand ein Gespür für seine Zeit hatte und wach genug war, sich auf sie einzulassen. Dass er dabei ganz bei sich blieb, ist nicht weiter überraschend und hat schon im Frühjahr 1971 für manche Groteske gesorgt. Als einmal einer der VVAW-Aktivisten bei Kerry anrief, meldete das Dienstmädchen nur: „Master Kerry ist nicht zu Hause.“ Am nächsten Tag hing im VVAW-Headquarter ein Poster mit der Zeile: „Befreit Kerrys Dienstboten.“

Die linksradikalen Exsoldaten, von denen sich viele dem Maoismus annäherten, haben ihn ertragen, wie das bei linken Basisbewegungen bis heute oft üblich ist, die ihre eloquenten Repräsentanten mehr dulden als lieben, aber gleichzeitig wissen, was sie an ihnen haben. Kerry war nach seinem Auftritt vor dem Senatskomitee in den Lagebesprechungen von Nixon und seinen Beratern eine fixe Größe. Für sie ist er eine bedrohliche Figur. Die randalierenden, zotteligen Hippies kann die Regierungspropaganda leicht denunzieren, diesen smarten 27-Jährigen, einen der Ihren, der wie Kennedy redet, nicht.

Dessen Hang zum Pompösen ist dem historischen Augenblick angemessen. „Der ist doch ein Schwindler“, sagt Nixon in einer solchen Sitzung. „Ja, der ist ambitioniert und sucht eine Plattform“, antwortet Nixons Berater Charles Colson. „Ein Kennedytyp, der wie Kennedy aussieht und genauso redet wie Kennedy“, warnt Stabschef H. R. („Bob“) Haldeman. Nixons Stab ist nervös. In einem Memo werden seine Leute instruiert, irgendetwas zu finden: „Lasst uns diesen jungen Demagogen zerstören, bevor er ein neuer Ralph Nader wird“, lautet der Auftrag. Es misslang.

Seither sind 33 Jahre vergangen. Die Geschichte ist eine ironische Gesellin. John Forbes Kerry, der Mann mit den passenden Initialen JFK, ist seinem Lebensziel, Präsident zu werden, verdammt nahe. Und auch Verbraucheranwalt Nader mischt mit, will als Unabhängiger antreten. Wieder geht es gegen einen republikanischen Kriegspräsidenten. Und wenn John F. Kerry, umringt von seinen Veteranen-Freunden, am Podium steht, soll die ganze Szenerie auch diese Botschaft senden: Ich habe schon einen Präsidenten erledigt. Das schaffe ich auch ein zweites Mal.

ROBERT MISIK, Jahrgang 1966, Autor in Wien, schreibt regelmäßig für die taz. Jüngste Buchveröffentlichung: „Marx für Eilige“. Aufbau Verlag, Berlin 2003, 176 Seiten, 7,95 Euro