Die Liebe der Königin

Die Sehnsucht nach großen Gesten, gekleidet in das Gewand der Askese: Laurent Chétouane inszeniert „Don Karlos“ am Schauspielhaus Hamburg und lenkt mit geradezu idealistischem Eifer alle Aufmerksamkeit zurück auf die Sprache Schillers. Nach der Zuschauerkrise schöpft die Kunst wieder Luft

VON TILL BRIEGLEB

Sicherlich mangelt es der Gegenwart an authentischen Gefühlen, an ehrenhaften Opfern und klarer Moral. Gelassene Zeitgenossen schieben da für gewöhnlich ein „Gott sei Dank“ hinterher. Doch ganz offensichtlich gibt es in der Generation der 30-jährigen hochintelligente Künstler, die das anders sehen. Sie haben Sehnsucht nach großen Gesten der Behauptung, modellieren sich blinde Leidenschaft zur sprachlichen Großplastik und suchen den Vorgeschmack erhabener Rebellion: Sie haben also Verlangen nach Schillers überhitzter Sprache.

Das Absurde an dieser Begeisterung für das sprachliche Pathos, wie sie sich in Laurent Chétouanes Inszenierung von Don Karlos“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg über fünf Stunden exzesshaft auslebt, ist ihre Verkleidung als Askese. In völlig unmodischer Reinheit verbietet sich Chétouane Pomp, Gags und Regieeinfälle und stellt seine Schauspieler ins Bühnenleere zum Sprechappell. Statuenhaft und in Socken stehen sie auf einer hausdachgroßen Tischplatte im bleichen Licht und dürfen jede Gemütsregung nur aus dem Rezitativ ableiten. Die wenigen Berührungen, die vorkommen, sind verkrampft und in ihrer Botschaft eindeutig: Körperlicher Kontakt ist nichts anderes als sprachliches Versagen.

Dies muss man als die einzige Ebene der Kritik an der Sprache verstehen, die Chétouane seinen Schauspielern gestattet. In ihrer totalen Unfähigkeit zur praktischen Liebe dürfen sie Unbehagen über den Stellenwert des kunstvollen Sprechen ausdrücken. Doch am Sinn dieser Herrschaft der Sprache über den Körper lässt Chétouane keinen Zweifel aufkommen. Aufrichtigkeit beweist sich allein im Wort.

Das Beeindruckende an dieser strengen Form, die nahezu bewegungslos und ehrfürchtig die Schiller’schen Verse so sprechen lässt, wie es den Autor zu Lebzeiten beglückt hatte, ist die extrem hohe Konzentration, die sie erzwingt. Das Publikum hängt den Schauspielern stundenlang gebannt an den Lippen und hustet sich nur in jedem Szenenwechsel aus. Diese Form eröffnet natürlich winzigen Gesten gewaltige Dimensionen. Da nichts vom Sprechen ablenkt, offenbart schon ein Schritt vorwärts und ein leichter Wechsel der Stimmfarbe die Liebe der Königin zu Marquis Posa und nicht zu Don Karlos. Solche Interpretationen mit flüchtigen Andeutungen verleihen dieser Arbeit dann immer wieder große Qualitäten. Wenn Devid Striesow etwas hohlen Klang auf die Worte „Flandern“ und „Tugend“ in Marquis Posas idealistischen Reden von der Befreiung der Menschheit legt, dann verwandelt sich der selbstlose Revolutionär blitzsauber in einen eitlen Wirkungsmechaniker. Und August Diehl lässt die tickende Zeitbombe in der rasenden Leidenschaft Don Karlos’ immer genau so sachte hören, dass er als Verzweifelter selbst da noch Sympathien weckt, wo er sie als emotionaler Amokläufer, der mit seiner vermessenen Liebe zur Königsgattin alle ins Verderben reitet, längst verspielt hätte.

Dennoch leidet die Inszenierung: Nicht nur vordringlich daran, dass außer Striesow und Diehl nur noch Andreas Schröders, der die guten wie die bösen Höflinge König Philipps in einer Person spielt, der hohen Getragenheit des Tons gewachsen ist. Anderen Darstellern fällt die hohe lyrische Künstlichkeit des Textes nur tot aus dem Mund vor die Füße. Das Grundproblem dieser Regie ist jedoch der fast religiöse Glaube an die Qualität der hohen Rede. Die Ehrfürchtigkeit, mit der Chétouane bei allen Deutungsräumen, die er öffnet, den Text auf den Deklamationssockel hebt, grenzt selbst an idealistischen Eifer. Denn empfände man in einer Rede die schillersche Diktion und Wortwahl heute sofort als Demagogie, so wird sie sie ins konzentrierte Zwiegespräche gezwängt, wie Chétouane es hier tut, zur heiligen Kunstexegese. Dabei verlöschen die sinnvollen betretenen Gefühle über die Vermessenheit, die in jedem Pathos steckt, zu leicht im schönen Sprachrausch.

Dennoch erfüllt diese Inszenierung ohne Zweifel endlich wieder die Ansprüche, die eine Bühne wie das Deutsche Schauspielhaus an seine Produktionen stellen muss. Nachdem zuletzt mit einer kalkulierten Banalisierung von Klassikern („Romeo und Julia“, „Warten auf Godot“), Verpflichtung prominenter Gäste (Robert Stadlober, August Diehl) und mit Kindertheater, das nahezu en suite gespielt wurde, der Kniefall vor der anhaltenden Zuschauerkrise gemacht wurde, schöpft nun die Kunst scheinbar etwas Luft. Schillers Frage nach der Integrität darf auch hier wieder gestellt werden.

Deutsches Schauspielhaus Hamburg, demnächst am 12., 14.,, 20. März