Bei Putins Wahlkämpfern in Sibirien

Am Sonntag wird in Russland ein neuer Präsident gewählt. Zwar steht der Sieger schon fest, aber die Helfer des Amtsinhabers mobilisieren das Jungvolk. Sie fürchten eine zu geringe Wahlbeteiligung. Andere haben Angst vor dem Dienst in Tschetschenien

Wenn es jetzt einen Machtwechsel gibt, weiß niemand, wohin das Land gehen wird

AUS IRKUTSK BARBARA OERTEL

Der Weg bis zum Kreml ist vier Meter lang und wird zur Geduldsprobe. In den Händen Pappmappen und Stapel mit bedruckten und handbeschriebenen Papieren warten rund ein Dutzend Männer und Frauen im Flur vor einer Tür auf Einlass. Hier in der Straße der Roten Armee, mitten im Zentrum der ostsibirischen Gebietshauptstadt Irkutsk, befindet sich das Bürgerbüro des Präsidenten der Russischen Föderation. Die Menschen sind gekommen, um Beschwerden, Anfragen und Vorschläge einzureichen.

Dem Staatschef im fast 5.000 Kilometer entfernten Moskau vorgeschaltet ist Leonid Wygowski. Der mittlerweile pensionierte Pädagogikprofessor thront hinter einem Tisch, zu seiner Rechten an der Wand ein großes Porträt von Wladimir Putin sowie die russische Fahne, zu seiner Linken eine junge Frau, die stoisch einen Briefumschlag nach dem anderen beschriftet.

Seit der Eröffnung des Büros am 2. Februar kämen jeden Tag bis zu 40 Bürger, sagt Wygowski. Es gehe um Wohnungs -, Beschäftigungs- und Rentenfragen, Vergünstigungen für Veteranen, Naturschutz und Stadtverschönerung. Probleme, die nicht vor Ort gelöst werden könnten, würden an den Kreml weitergeleitet. „Aber erst ab dem 15. März, nach den Wahlen und der Schließung des Büros“, sagt Wygowski. „Sonst würde das Ganze ja wie Wahlkampf für Putin aussehen. Das wäre aber eine unrechtmäßige Ausnutzung des Amts und ist gesetzlich verboten.“

Doch Gesetze sind eben Auslegungssache – zumal in Russland und noch dazu vor Wahlen. „Wissen Sie“, sagt Leonid Wygowski, „ich will mit meiner Arbeit hier vor allem Wladimir Putin unterstützen.“ Zweimal habe er Putin persönlich getroffen, als der ein Waisenhaus in Irkutsk besucht habe. „Er ist ein guter Mensch, er muss unbedingt wiedergewählt werden“, sagt Wygowski. „Er, der gebildetste und ausgeglichenste Präsident, den Russland seit seiner Unabhängigkeit hatte.“

Im Dienste des Mannes der Superlative ist auch Ewgeni Chochrjakow unterwegs. Der Journalist, der im gleichen Gebäude logiert, ist Gründer und Chefredakteur der Irkutskie Wedomosti (Irkutsker Nachrichten), einer Wochenzeitung der Putin-nahen Partei „Vereintes Russland“. „Putin ist wie ein Zar, und der musste es in Russland schon immer richten“, sagt Chochrjakow und grinst dabei. „Der Präsident hat die Menschen beruhigt, und sie haben begonnen, unter stabilen Verhältnissen zu leben. Wenn es jetzt einen Machtwechsel gibt, weiß wieder niemand, wohin das Land gehen wird.“

Dass der amtierende Präsident mangels ernsthafter Alternativen am 14. März wiedergewählt wird, steht auch für Chochrjakow außer Frage. Doch eine andere Sorge treibt ihn um: dass zu wenig Wähler an die Urnen gehen könnten. „Stellen Sie sich vor“, sagt er, „wenn nur 50 Prozent zur Wahl gehen und davon 60 Prozent für Putin stimmen, unterstützen gerade einmal 30 Millionen Menschen den Präsidenten. Darunter würde seine Autorität extrem leiden, und das vor allem im Ausland.“

Deshalb wird mobilisiert, was das Zeug hält, besonders unter den Jungwählern. Lässig dreht Chochrjakow seinen Flachbildschirm herum. Darauf erscheinen die Ergebnisse der ersten „Primaries“, die seine Mitarbeiterin vor wenigen Tagen mit 4.456 Irkutsker Studenten veranstaltet hat. Demnach entfallen auf Putin 66,7 Prozent der Stimmen, Platz 2 nehmen mit 11,3 Prozent diejenigen ein, die gegen alle sind, auf dem dritten Platz folgt mit 9,3 Prozent die unabhängige prowestliche Kandidatin Irina Chakamada. Der Rest ist unter „ferner liefen“ zu verbuchen.

Doch auch die nichtstudentische Jugend versuchen die Verantwortlichen zu erreichen. Auf einem Flugblatt unter dem Motto „Wähle, wenn du jung bist!“ heißt es: „Eure Teilnahme an den Wahlen ist eine Gewähr für Stabilität und Ordnung im Land, für Glück und Wohlstand in jedem Haus.“ Auch die Tageszeitung Komsomolskaja Prawda versucht ihren Lesern in einer kostenlosen Sonderbeilage die Wichtigkeit einer Stimmabgabe nahe zu bringen. Unter der Überschrift: „Der dritte Wahlmythos – Nach den Wahlen wird sich nichts ändern“ ist zu lesen: In jedem Fall wird der Präsident eine neue Regierung ernennen und Schritte unternehmen, die die Wähler von ihm erwarten.

Doch Putin inthronisierte erst vor kurzem mit Michail Fradkow einen neuen Regierungschef, der wohl kaum nach dem 14. März wieder in die Wüste geschickt werden dürfte. Im selben Blatt erläutert ein Befragter, dass er wählen gehe, weil er viele positive Veränderungen bemerkt habe. So sei es jetzt ungefährlicher geworden, auf den Straßen spazieren zu gehen.

Fragt sich nur, für wen. So sind in der 670.000-Einwohner-Stadt, in der der Handel mit Holz ein zentraler Wirtschaftszweig ist, in den beiden ersten Monaten dieses Jahres bereits zwölf Personen auf offener Straße erschossen worden – allesamt Auftragsmorde. Nach Moskau und St. Petersburg soll Irkutsk derzeit den dritten Platz einnehmen, was die Anzahl von Aids-Kranken betrifft – derzeit sind 2.000 Fälle offiziell gemeldet. Damit einher geht ein steigender Drogenkonsum, vor allem von Heroin. Ein Schuss kostet 60 Rubel (umgerechnet 2 Dollar).

Manchmal treibt die Beschaffungskriminalität auch seltsame Blüten. „Sehen Sie hier“, sagt Roman, ein 26-Jähriger, der einen Transporter besitzt und damit gegen entsprechende Entlohnung Menschen und Lasten aller Art befördert. Er weist mit der Hand auf Holzhäuser, die sich zu beiden Seiten einer Straße im Zentrum aneinander reihen und immer noch einen Großteil des Häuserbestands in Irkutsk ausmachen. „Die stehen unter Denkmalschutz und dürfen nicht abgerissen werden. Doch für die Sanierung hat niemand Geld. Viele Menschen leben dort unter schrecklichen Bedingungen.“

Im vergangenen Jahr hätten Unbekannte nachts an 15 Stellen gleichzeitig Holzhäuser angezündet, um an den Baugrund zu kommen. Auch Romans Eltern wohnten in einem solchen Haus, konnten sich und einen Teil ihrer Behausung jedoch in letzter Minute retten.

Auf Politik und die Wahlen angesprochen, winkt Roman ab. „Ich werde wohl Putin wählen, einen anderen gibt es ja nicht, aber besser wird es hier sowieso nicht werden“, sagt er. Für ihn ist eine andere Frage viel entscheidender. Bis 28 Jahre können Männer zum Wehrdienst eingezogen werden. Einmal hat er sich freigekauft und hofft nun, auch die verbleibenden zwei Jahre verschont zu bleiben. „Die Armee“, sagt er „ist ein Albtraum. Meine größte Angst dabei ist, dass sie mich nach Tschetschenien schicken könnten.“