Im Identitätssupermarkt

Improvisation ist kein Selbstzweck, sondern ästhetisches Programm: Sören Voigt hat für seinen großartigen Spielfilm „Identity Kills“ alle Freiheiten des unabhängigen Filmemachens ausgeschöpft

VON ANDREAS BUSCHE

Das hätten sich die Kulturwissenschaften nicht träumen lassen. Unter spätkapitalistischen Gesichtspunkten ist Identität nichts anderes mehr als eine Ware. Auf dem Schwarzmarkt sind persönliche Datensätze heute bares Geld wert. Werden sie zu hunderttausenden gestohlen wie im letzten Jahr, als IBM Kanada 180.000 digitale Kundenkarteien einer großen Versicherung „abhanden“ kamen, gilt das sogar als Kapitalverbrechen. „White Collar Crime“ nennen Sicherheitsexperten das am schnellsten wachsende Kriminaldelikt in der westlichen Welt. Kreditkarten- und Sozialversicherungsnummern, Verbraucherprofile und behördliche Akten, Facetten einer neuen, globalisierten Identität, werden enteignet, „entsubjektiviert“ und auf Websites gegen ein Entgelt als reiner Datenwert zur Verfügung gestellt. Die Bits & Pieces dieser „elektronischen“ Identitäten gehen in einen Warenfluss ein, bereit für neue Träger.

In der analogen Welt suchen derweil jede Menge orientierungsloser Konsumenten zwischen flashy Werbebotschaften und gut gefüllten Warenregalen nach so etwas wie einer Identität. Verbindlichkeit. Das Bild mag ein Klischee sein, aber Sören Voigt hat für den Film „Identity Kills“ seine Symptomatik erkannt. Verstörend ist nicht mehr die lärmende, bunte Oberfläche, sondern die Tristesse, die dahinter zum Vorschein kommt. Nicht die freundlich lächelnden Gesichter der Agenten der Güterumverteilung (der Autoverkäufer, der nette Mann im Reisebüro, die maskenhafte Fratze der Verkäuferin im Nippesladen, von der die Kamera den Blick nicht abwenden kann), sondern wie reibungslos der Mensch in diesem Szenario funktioniert.

Voigts einsame Heldin Karen ist aus der psychiatrischen Klinik, wo sie nach einem Selbstmordversuch einige Tage verbracht hat, gerade ins Leben zurückgekehrt. Zu Hause angekommen muss sie feststellen, dass ihr Freund Ben seine Exfreundin in ihrer gemeinsamen Wohnung einquartiert hat. Die Anonymität der Straße, wohin es sie immer verschlägt, wenn ihr das Private keine Zuflucht mehr bietet, wird zum Jagdrevier für fremde Identitäten, in die sie unauffällig schlüpfen kann. Durch Zufall platzt ein junges Mädchen in ihr Leben, für das sie sich zunächst bei einem Bewerbungsgespräch ausgibt. Anfangs ist es nur ein Spiel, aber je offensichtlicher wird, dass sie nicht in der Lage ist, sich ihrer Umwelt anzupassen, desto mehr sucht sie die Nähe derjenigen, die einem fremden Lifestyle anhängt. Das Prinzip der Adaption, des Identitätsklaus, als postmoderne Überlebensstrategie.

Ratlos wandert sie durch Menschenansammlungen ohne tieferen Sinn, ohne Sinnlichkeit. Voigt hat ein gutes Auge für diesen Zustand. Wo bloße Repräsentation als Kritik zwangsläufig versagen muss, setzt er auf dokumentarische Unschärfen. Die Sprache ist unfertig und verletzlich, die Kamera lapidar. Immer wieder enden Szenen nach langem Schweigen abrupt, als wäre das Band voll gewesen. Schnitte und Übergänge folgen keinem filmisch-psychologischen Prinzip mehr. So werden die kleinen psychischen Verletzungen umso sichtbarer.

Voigts Blick ist jedoch nie wertend; er beobachtet aus der distanzierten Position eines Menschen, der sich über seine eigenen Lebenszusammenhänge erst wieder klar werden muss. Die Auseinandersetzung mit der Lebenswelt verläuft in „Identity Kills“ über die Negation des bürgerlichen Entwicklungsromans. Normalität ist von Beginn an nicht mehr herstellbar.

Brigitte Hobmeier spielt Karen mit faszinierender Zurückhaltung. Die Übergänge vom unsicheren Selbst zur Ersatzidentität verlaufen in Hobmeiers Spiel fließend und unspektakulär. Schönes Anschauungsmaterial dafür liefert eine Szene auf einer öffentlichen Toilette, in der Karen sich wie bei einer Probe in eine neue Situation „einarbeitet“. Vor dem Spiegel nimmt sie mehrere Sprechanläufe, bevor ihr die neuen Rolle passt. Der Zuschauer wird direkter Zeuge des Adaptionsprozesses. „Die Schauspieler müssen sich ihre Figuren selbst erfinden“, sagt Voigt im Presseinfo zu „Identity Kills“. „Das geht bis in die Mikroebene des Gesprochenen, in Überlappungen, halbe Sätze, abgebrochene Rede. Wird so etwas als geschriebener Dialog gespielt, drängt sich sofort die Kunst des Schauspielers in den Vordergrund.“ In „Identity Kills“ ist das anders: „In unserer Arbeit schiebt sich dieser Effekt nicht zwischen Schauspieler und Publikum.“

Effekte hat Voigts Film nicht nötig. Außer Hobmeier und Daniel Lommatzsch, der Ben spielt, sind alle Darsteller Laien. Improvisation ist jedoch kein ästhetischer Selbstzweck. Die konzentrierten Arbeitssituationen bilden die Widersprüche eines komplexen Lebens genauer ab, als es ein hegemonialer Produktionsapparat jemals könnte. Mit „Identity Kills“ hat Voigt sich alle Freiheiten des unabhängigen Filmemachens zunutze gemacht. In seiner brüchigen Rohheit ist „Identity Kills“ schlicht eine kleine Sensation.

„Identity Kills“. Regie: Sören Voigt. Mit Brigitte Hobmeier, Daniel Lommatzsch u. a. Deutschland 2003, 81 Min.