27 Hinrichtungen jeden Tag

China richtet pro Jahr fast 10.000 Menschen hin, sagt ein chinesischer Juraprofessor und enthüllt damit ein Geheimnis. Kurz danach dementiert er wenig glaubwürdig

PEKING taz ■ Eine selten konkrete Vorstellung für die denkbare Zahl der Hinrichtungen in China hat gestern ein Rechtsprofessor aus der südwestchinesischen Stadt Chongqing geliefert. Laut der gestrigen Ausgabe der staatlichen Chinesischen Jugendzeitung sprach Professor Chen Zhonglin von jährlich „fast 10.000 Fällen von Todesstrafen, die in einer sofortigen Hinrichtung enden“. China richte damit fünfmal mehr Menschen hin als der Rest der Welt zusammen.

Allerdings dementierte Chen, der auch Abgeordneter des Nationalen Volkskongresses ist, noch gestern die Angaben der Zeitung. Die Zahlen stimmten nicht und die Zeitung hätte Unsinn geschrieben, sagte Chen. Zuvor aber hatte die Nachrichtenagentur AFP von einem Telefonat mit Chen berichtet, in dem der Jurist die zuvor veröffentlichte Zahl der Hinrichtungen als „Schätzung von Abgeordneten und Wissenschaftlern“ qualifizierte und damit indirekt bestätigte. So lag gestern die Vermutung nahe, dass Chen seine Aussagen aufgrund des Drucks der Partei- oder Staatsbehörden zurücknehmen musste.

Die Angabe über jährlich 10.000 Hinrichtungen in China – rund 27 pro Tag – entspricht durchaus bisherigen Vermutungen westlicher Beobachter. Doch waren es eben nur Vermutungen. Stattdessen beruft sich die westliche Kritik an Chinas ausufernder Praxis der Todesstrafe in der Regel auf die Angaben von amnesty international, die jedoch nur die in Chinas Medien vermeldeten Fälle aufführen. Demnach wurden 2001 in China 2.468 und 2002 1.062 Menschen exekutiert. Insofern bestätigen die Angaben der Chinesischen Jugendzeitung erstmals von chinesischer Seite die schlimmsten Befürchtungen über die hohe Dunkelziffer der Hinrichtungen in China.

Dass diese Zahl gerade jetzt ans Licht kommt, lässt sich mit den Beratungen des Volkskongresses in der letzten Woche erklären. Erstmals forderte hier eine Reihe von Delegierten eine Einschränkung der Anwendung der Todesstrafe. Zu ihnen zählte auch Chen, der sich für dafür einsetzte, alle Todesurteile vom Obersten Gerichtshof überprüfen zu lassen. Bisher werden die meisten Höchststrafen von Provinzgerichten überprüft.

GEORG BLUME