BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Ein Kind, und du bist CDU-Wähler

Sind Eltern von Geburt an konservativ? Quatsch. Die wahren Konservativen wohnen im Kinderzimmer

Der Spruch stand mit wasserfestem Stift in Augenhöhe auf dem Jungenklo meiner Schule: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Wir fanden den Sponti-Spruch (an dem sich ablesen lässt, vor wie vielen Jahrzehnten ich in der Schule war – oder aber, in welchen Abständen bei uns die Toiletten renoviert wurden) immer irgendwie witzig. Auch wenn wir damals alles für die Chance gegeben hätten, um auf diese Weise zum Establishment zu gehören.

Aber dass das Sexualverhalten auf das politische Bewusstsein durchschlagen würde, das fanden wir abstrus. Vielleicht wussten wir einfach zu wenig über Sex.

Mein kinderloser Freund Frank ist da natürlich Experte. Bei einem seiner letzten rhetorischen Rundumschläge schlich sich dann auch genau das in seinen Redefluss: Die Festlegung eines politischen Standpunkts anhand sexueller Merkmale. Frank sagte in einem Nebensatz: „… für Eltern, die ja ohnehin konservativ sind …“

„Warum das denn?“, unterbreche ich ihn.

Frank war sprachlos. „Na, das ist doch allgemein so.“

Ist das so?

Und dann lese ich vor ein paar Wochen ein Interview in der taz. Mit dem Soziologen Heinz Bude. Der sagt: „Familie als eine Stabilitätsperspektive zu entdecken, ist konservativ. Wir werden konservativ, weil wir nicht mehr auf finanzielle Anlagestrategien setzen, sondern an die familiäre Unterstützung glauben.“

Na toll. Von mir völlig unbemerkt habe ich also in den letzten Jahren das politische Lager gewechselt. Ohne es zu merken (nur ab und zu ein bisschen Seitenstechen, aber das kann es doch nicht sein?), ohne anders zu wählen, ohne ein Damaskus-Erlebnis, ohne einen neuen Freundeskreis: Plötzlich bin ich nicht mehr der Müslilinke Fahrradvati, sondern einer dieser „Ich hab ja nichts gegen Frauen, aber …“-BMW-Lenker.

Hätte ich merken sollen, wie bei der Geburt von Jonas in mir ein Schalter umgelegt wurde?

Um ehrlich zu sein: Ja, wir sind ein Hort des Konservatismus – allerdings vor allem im Kinderzimmer.

Für Jonas muss alles so bleiben, wie es schon immer war. Wehe, wir verreisen mal! Tina ist vollständig autoritätsfixiert (sie macht allerdings gerade eine Therapie, bei der ihr das Gegenteil verordnet wurde). Und Stan ist mit allem zufrieden, wenn es nur genug zu trinken gibt.

„Eigentlich sollten wir da doch extrem progressiv sein“, sagt Anna. Schließlich machen Kinder doch immer genau das Gegenteil von dem, was man eigentlich will. Und da bin ich lange schon am Grübeln, ob ich nicht bald den konservativen Paterfamilias herauskehren müsste, damit meine Kinder nicht in der Jungen Union landen. Aber wenn ich den Argumenten von Frank und Herrn Bude folge, erledigt sich wenigstens dieses Problem von selbst.

Sind Eltern also von Geburt an konservativ? Falsch! Konservative schauen zurück, wollen das Vergangene festhalten und festschreiben, orientieren sich an den Werten, die sich in ihren Augen traditionell bewährt haben. Und was machen wir? Spähen jeden Tag verzweifelt nach der Zukunft aus. Hoffen, dass diese weißen Nächte mit zahnenden Kindern vorbeigehen.

Wir ersehnen die goldene Zukunft, wenn die Brut schläft oder vernünftig genug ist, wenigstens so zu tun. Und höchst flexibel suchen wir unsere Werte in der Zukunft: Wir passen sie den Öffnungszeiten des Kindergartens und den Launen unserer Despoten an. Ist die Zukunft besser als die Vergangenheit? Hoffentlich!

„Kennst du eigentlich die beste Definition von konservativ und progressiv?“, fragt Anna. Sie lacht, wie sie immer lacht, wenn sie etwas Verrücktes vorhat. „Progressiv ist, wer für Steuerprogression ist. Und konservativ, wer seine Kinder aufs Konservatorium schickt.“

Da haben wir ja noch mal Glück gehabt. Wer taz-Gehalt bezieht, ist selbstverständlich immer dafür, dass die Reichen mehr Steuern zahlen als die Armen. Nur meine Tochter macht mir Sorgen. Tina ist so verdammt musikalisch.

Fragen zur Jungen Union? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahns ROTKÄPPCHEN