„Auch Gewerkschaften vertreten nur eine Interessengruppe“, sagt Daniel Cohn-Bendit

Die Protestbewegungen sind nichts links. Es sind soziale Bewegungen, die einen gewissen Besitz wahren wollen

taz: Herr Cohn-Bendit, am Wochenende protestieren die Gewerkschaften gegen eine SPD-geführte Regierung. Ist das der Anfang einer neuen linken Bewegung?

Cohn-Bendit: Ach, die Gewerkschaften. Richtig ist doch, dass den Gewerkschaften genauso die Mitglieder weglaufen wie der SPD. Zudem sind die Gewerkschaften nicht links, sondern vertreten auch nur eine gewisse Interessengruppe. Übrigens sind Reibungen zwischen Gewerkschaften und SPD nichts Neues.

Mit der SPD hatte die Gewerkschaft immer einen Arm in der Politik. Braucht sie den jetzt nicht mehr?

Ich teile diese Ansicht nicht, die Gewerkschaften sind kein Transmissionsriemen der Positionen von unten in das Parlament transportiert. Gewerkschaften sind doch nur insofern interessant, dass sie bestimmte Positionen innerhalb der Gesellschaft einnehmen.

Können die deutschen Gewerkschaften Kern einer neuen APO werden – oder eher Attac?

Die Gewerkschaften sind die Gewerkschaften sind die Gewerkschaften. Die wird es noch geben, wenn wir alle schon tot sind. Wer weiß, in welcher Form. Sie sollten endlich mal lernen, eigene Antworten auf die drängenden Fragen zu geben und nicht die ganze Zeit zu verweigern. Und was aus Attac wird, hängt davon ab, welche Lösungen sie anbieten und diskutieren können. Bleibt Attac so unflexibel wie es teilweise ist, wird es verschwinden.

Jede europäische Regierung, die Reformen durchsetzt, kämpft mit Protesten. Es scheint dabei egal zu sein, ob von links oder rechts reformiert wird.

Auf den ersten Blick stimmt das. Die konservative französische Regierung ist bei den Wahlen genauso bestraft worden wie in Deutschland die SPD. Die Volksparteien haben zu kämpfen. Hier stellt sich die Frage nach der Funktion des sozialen Protests. Und ich denke, er will Raum für Reformen öffnen.

Die Protestler sind für Reformen?

Ja, aber für andere. In Frankreich zum Beispiel haben die Franzosen den Eindruck, die Regierung Raffarin vollzieht das Programm der Arbeitgeber. In Deutschland gibt es eine Enttäuschung über die Sozialdemokraten, die das machen, was sie nie wollten. Die Proteste eröffnen eine Diskussion über die Grenzen und das Maß der Reformen. Und sie geben eine Richtung vor, in die diese Reformen auch gehen können.

Für den Wähler heißt das einzige ersichtliche Programm aber Kürzung.

Es gibt doch nicht den Wähler. In Deutschland verlieren die Grünen keine Wähler, in Frankreich auch nicht. Ich glaube vielmehr, dass viele Leute zu Reformen bereit sind. Man muss sie ihnen nur erklären und man muss ihnen sagen, dass es zum derzeitigen neoliberalen Mainstream eine Alternative gibt. Es muss überhaupt anerkannt werden, dass es Alternativen gibt. Schröders größter Fehler ist zu sagen, es gebe keine Alternativen zu seiner Politik. Natürlich gibt es die. Wer das ignoriert, hält die Menschen für dümmer als sie sind.

Das Beharren auf dem angeblich einzig möglichen Weg ist derzeit Politik, egal wer gewählt wird.

Das ist doch Quatsch. In Frankreich setzt die konservative Regierung das Programm der Arbeitgeber um, in Deutschland versucht die Regierung wenigstens etwas vom Sozialstaat zu retten. Allerdings wirkt es hilflos, wenn Wirtschaftsminister Clement versucht, mit der Förderung der Kohle traditionelle Bindungen der Arbeiter an die Partei zu bewahren. Das funktioniert nicht. Die Leute sehen in ihm nur den, der alles so macht, wie es die Arbeitgeber wollen.

In Zukunft wird ohne ideologische Bindung gewählt?

Da sind wir doch längst. Chirac war doch als Premierminister in Frankreich ein Meister im Wahlengewinnen, ein paar Jahre später hat er sie wieder haushoch verloren. Und das ist ja auch ganz gut, wenn die Menschen nicht ideologisch wählen. Denn dann müssen Politiker anfangen zu argumentieren. Dann müssen sie überzeugen. Das ist erst echte Politik. Leider versäumt es die SPD derzeit, die Verhältnisse zu analysieren und dann gezielte Antworten zu geben. Stattdessen produziert sie Pannen.

Aber die Grünen kennen natürlich die Antworten?

Nein, aber sie sind stärker bereit, auf Veränderungen einzugehen. Und Dinge zu probieren. In Zukunft wird Politik mehr nach dem Trial-and-Error-Prinzip ablaufen. Man muss gucken, was funktioniert und was nicht. Schröder hat den Rentnern versprochen, ihre Rente werde nicht angetastet. So hat er die Wahlen gewonnen, mit einer einfachen Antwort, die keine Fehler zuließ. Politiker müssen zugeben, dass sie Fehler machen, weil das unumgänglich ist. Alles andere ist Marxismus. Auch Frau Merkel ist Marxistin, weil sie ja davon ausgeht, dass ihre Position und Politik gesetzmäßig richtig sind.

Ist das Problem der SPD nicht auch das Problem der Grünen? Die Linken wenden sich ab.

Die Protestbewegungen sind doch nicht links. Das sind soziale Bewegungen, die zunächst einmal das Ziel haben, einen gewissen Besitz zu bewahren. Und danach treten sie noch für andere ein und wollen Veränderungen.

Es gibt die Bestrebungen, eine Linkspartei zu gründen.

Na, denen wünsche ich viel Glück. Danach besteht doch gar kein Bedarf. Wer will denn schon die abgestandenen Rezepte von vor 30 Jahren immer und immer wieder kosten? Niemand.INTERVIEW: DANIEL SCHULZ