Mann mit Pausen

Er begann als Egozentriker. Brutal, innerlich zerrissen. Er spielte sehnsüchtig und leidenschaftlich – ein begnadeter Schauspieler, der seiner Kunst irgendwann überdrüssig wurde

VON EGBERT HÖRMANN

Stars haben eine unverwechselbare Körpersprache. Niemand lächelt wie Romy Schneider, niemand stöckelt wie Marilyn Monroe durch die unerforschten Dschungel des öffentlichen Verlangens, niemand verkörpert unangestrengten Stoizismus besser als Marlene Dietrich. Stars bringen Veränderung in die Welt. James Dean erfand seinen eigenen Tod, Marlon Brando vervollkommnete die Kunst des T-Shirt-Tragens und schickte abertausende von schweren Motorrädern auf die Straßen.

Marlon Brando, die Zäsur. Sein naturalistischer, Irrationalität freisetzender Schauspielstil war etwas, was die Welt noch nie gesehen hatte. Brando hatte harten, proletarischen Glamour, gleichzeitig zeigte er Verletzlichkeit, brütete in einem Nebel existenzieller Angst. Anders als alle männlichen Stars vor ihm brachte Brando etwas Neues mit – das Schweigen. Hier war ein Mann, der Pausen nicht fürchtete.

Brando wurde als jüngstes von drei Kindern am 3. April 1924 in Omaha, Nebraska geboren. Sein erzkonservativer Vater verdiente als Handlungsreisender für Kalkprodukte und Viehfutter ganz gut und war ein Schürzenjäger. Seine Mutter, eine Vollalkoholikerin, war eine feinsinnige Lady mit frustrierten künstlerischen Ambitionen, die die Kleinstadt mit bizarrem Verhalten in Atem hielt. Die Familie zog viel um. Die improvisierten Szenen in „Der letzte Tango in Paris“ (1972) liefern uns das Psychogramm dieser Kindheit und des sich dort bildenden Charakters: Hass auf Philistertum, Wut auf soziale Ungerechtigkeit, Verachtung für Autoritätsfiguren und vor allem ein brennendes Gefühl für das eigene Martyrium.

Bud (Marlon) ist ein schwieriger Junge mit einem Sinn für derbe Scherze, er fliegt von der Highschool und von der Militärakademie. Er driftet nach New York, nimmt Schauspielunterricht und spielt drei Jahre am Broadway. Er spricht für das Theaterstück „Endstation Sehnsucht“ bei dessen Autor Tennessee Williams vor, wird sofort engagiert und schreibt mit der Premiere am 3. Dezember 1947 Theatergeschichte. Mit Elia Kazans Filmversion wird 1951 der Hollywoodstar Brando geboren.

„Endstation Sehnsucht“, die Geschichte über die häuslichen Szenen des Arbeiterklassenheteros, seiner sozial deklassierten Ehefrau und ihrer deplatzierten Schwester, hat bis heute nichts von seiner Kraft verloren. Brando schwitzt hier animalischen Sex aus, wie man es im Film noch nicht gesehen hatte. Er definierte die Essenz des amerikanischen Sexappeals: Geschmack an der Gewalt, Obertöne eines halb bewussten Sadismus und eine Tendenz zur Zerstörung, zur Anarchie, immer auf der Kippe zur negativen Macht, zum Terror. Diese Sexualität kennt keine Regeln, nur ein Zimmer und ein Bett, aber ein Küchentisch tut’s auch.

Zwei weitere Filme besiegeln Brandos Ruhm als eine der größten Ikonen der Fünzigerjahre: „Der Wilde“ (1953) und „Die Faust im Nacken“ (1954). In diesen frühen Jahren als Schauspieler verkörperte er eine verlängerte Adoleszenz, jemand, der sich den Verpflichtungen des Erwachsenseins verweigert und an der gesetzlosen Freiheit der Kindheit festhält. Brando war mit fast dreißig eindeutig zu alt für die Rolle des King of Cool, des Halbstarken Johnny in „Der Wilde“, einem ziemlich überdrehten B-Movie-Clockwork-Orange-Camp-Quatsch, einer Hymne auf die Motorrad-Lederjacken-Bluejeans-Rebellion – kein guter Film, aber eine stilbildende Fashion-Fotostrecke.

Elia Kazans „Faust“, der Brando den ersten Oscar bescherte, ist da etwas ganz anderes: die mythische Geschichte von Sünde und Vergebung, Liebe und Erlösung, Kreuzigung und Auferstehung im New Yorker Hafenarbeitermilieu. Hier ist Brando auf der Höhe seiner Kunst und des „Brandoismus“, dessen Kennzeichen die murmelnde, verschliffene Sprechweise ist. Genial der von Brando improvisierte androgyne Augenblick, in dem er den Handschuh von Eva Marie Saint aufhebt und dann bizarrerweise seiner eigenen Pranke überstreift. Ebenso ihr erster Kuss, wenn Brando, nicht Saint, die traditionelle Position der hingegossenen, auf dem Rücken liegenden Frau einnimmt, und die Kamera liebkost seine feucht schimmernden Satyraugen, während er langsam den Kopf hebt, damit sich die Lippen vereinen können. „Wenn es eine bessere männliche Performance in der Geschichte des amerikanischen Films gibt“, schreibt Kazan in seiner Autobiografie, „ist sie mir nicht bekannt.“

Die darauf folgenden Sixties sind Brandos „verlorene Jahre“, in denen er bestenfalls einen guten Film machte. Seine Freude an der Schauspielerei schien zu sterben – das mag an Streifen wie „Das kleine Teehaus“ und „Sayonara“ gelegen haben. Jetzt engagierte er sich für „Wichtigeres“: die Bewegungen der Indianer und der Schwarzen, die Dritte Welt. Wie Robert De Niro hat Brando eine Schwäche für farbige Frauen (die er damit erklärte, dass seine Mutter ja bereits blond gewesen sei), und nachdem er sich während der Dreharbeiten zu „Meuterei auf der Bounty“ 1962 in eine Neunzehnjährige und den Südpazifik verliebt hatte, kaufte er sich eine Inselgruppe nördlich von Tahiti. Er schien sich degoutiert von der Welt und von seinem Beruf zurückzuziehen und wurde langsam fett. Kazan sah Brando 1963 in Hollywood und vernahm die Tiefe seiner Desillusionierung: „Hier bin ich, ein Versager mittleren Alters, dem die Haare ausgehen. Wenn ich spiele, ist es ein Betrug. Ich habe alles versucht – ficken, saufen, arbeiten. Nichts davon bedeutet etwas …“

Dann kommt 1971, im Alter von siebenundvierzig Jahren, das spektakulärste Comeback in der Geschichte des Showbusiness, mit Francis Ford Coppolas „Der Pate“, dem vielleicht größten Gangsterfilm aller Zeiten. Für ihn muss Brando, inzwischen als Kassengift und „schwierig“ verschrien, sogar noch vorsprechen. In einem außergewöhnlich starken Schauspielerteam ist Brando weise, freundlich, sentimental, sarkastisch und absolut rücksichtslos. Al Pacino meinte zu Brandos Don Vito Corleone: „Es war, als würde man mit Gott spielen.“ Seinen Oscar für diese Hauptrolle holte Brando aber nicht selbst ab, sondern schickte eine Indianerin, die eine scharfe Rede verlas, in der der Preisträger den Oscar verweigerte, weil Hollywood während seiner ganzen Geschichte die Indianer diffamiert habe. Die Traumfabrik stand düpiert Kopf.

Nur jemand wie Brando konnte im selben Jahr dieses Triumphs, 1972, einen Euro-Kunstporno wie Bernardo Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“ drehen. Der Film, ein typisches Produkt der „neuen“ Sexualmoral, thematisiert das sexuelle Scheitern des Kapitalismus. Für die Starkritikerin Pauline Kael war er eine quasi mystische Erfahrung, man könnte aber auch sagen, dass es einfach nur ein Film über die Schwierigkeit ist, in Paris eine Wohnung zu finden. Egal – Brandos radikaler Seelenstrip, ein brillantes Meisterwerk seiner Technik, voll Traurigkeit, Raserei, Erschöpfung, verzweifelter Melancholie, innerer Leere, Qual und Nutzlosigkeit, ist in seiner Nacktheit auch heute noch faszinierend. Bertolucci: „Ich muss sagen, dass Brando als Mensch ein Engel, als Schauspieler aber ein Monster ist … Wie eine von Bacon gemalte Person trägt alles, was aus seinem Innersten kommt, als Gesichtsausdruck die gleiche angefressene Plastizität. Das Tibetische in ihm und seiner Physis ist außergewöhnlich.“

Marlon Brando, der danach immer mehr wie Orson Welles aussah, dessen tiefe Verachtung für Hollywood er teilte, hielt die Filmschauspielerei wie auch Spencer Tracy und Richard Burton immer für eine irgendwie fragwürdige, leere und unnütze Angelegenheit, für den Ausdruck eines neurotischen Impulses („Da gibt es keine Künstler. Wir sind Geschäftsleute“). Vielleicht befindet sich tief im Zentrum dieses Mannes, im Unfrieden mit sich selbst und der Welt, ein monumentales Minderwertigkeitsgefühl, das zu früh verankert wurde, um durch Ruhm, Frauen und Reichtum erlöst zu werden. Auf der Suche nach der Wahrheit über sich selbst, die Mitmenschen und die Welt las Brando die großen Philosophen und unterzog sich zehn Jahre lang einer Psychoanalyse mit dem Wunsch: „Ich möchte nur so normal verrückt sein wie alle anderen auch.“ Zu Truman Capote, dem er 1956 für die Zeitschrift Esquire ein allzu entblößendes, wodkageöltes Interview gab, meinte er: „Man muss Liebe haben. Das Leben hat sonst keinen Sinn. Das war immer mein Hauptproblem, meine Unfähigkeit, jemanden zu lieben.“

Tatsächlich scheint Brando in seinen Filmen nie zu lieben. Er steht mit prachtvoller Obszönität allein im Universum, ein Fleisch gewordener Wille, aus seinen eigenen Tagträumen destilliert. War Brandos herausfordernde Splendid Isolation eine philosophische Durchdringung der Welt, eine Art Heroismus, die Hollywood-Fantasie von männlicher Unabhängigkeit oder ein Hilferuf?

Er mag mit seinem Haremsgeschmack (vier Ehefrauen, neun Kinder, ungezählte Affären mit beiden Geschlechtern) sich für die Liebe zu Menschen nicht genügend Zeit und Geduld genommen haben. Seine Kunst aber hat er intensiv geliebt. Er hoffte, die Welt und die Menschen zu verändern. Ist es ihm gelungen? Dieser gequälte Gigant, dem eine altersmilde Abgeklärtheit nicht vergönnt ist, hat mehr große Filme gemacht als jeder andere Schauspieler des 20. Jahrhunderts.

Und nun hat sich die unvergleichliche byroneske Schönheit mit ihrem edlen Profil in eine unangreifbare und abweisende Fettmasse zurückgezogen, die von einer weltmüden Poesie der Erschöpfung überströmt ist. Hier bin ich, seht mich nicht an. Es schmerzt uns um seinetwillen, den Brando von heute mit dem jungen Schauspieler zu vergleichen, der die Grenzen der Schauspielkunst so kühn erweiterte.

Filmbilder halten Zeit fest, aber sie erlösen sie auch. Sie sind ein Fragment der Zeit, oft von außerordentlicher Klarheit, und der gute Schauspieler versetzt den flüchtigen Augenblick immer mit einem Hauch Ungewissheit. Es ließen sich in der Karriere Brandos der ganze Glamour, die Energie und die Vergeudung Amerikas sehen: Sein kahler, schwitzender Schädel, der in der Finsternis von „Apokalypse Now“ glänzt, ist ein bleibendes Bild des Vietnamkrieges. Brando hauchte Leben in Augenblicke, die nicht im Drehbuch standen, und er füllte Lücken mit geheimen Teilen seiner Seele.

EGBERT HÖRMANN, geboren 1956, lebt als freier Autor und Übersetzer in Berlin und St. Petersburg