Die drei Leben des Arthur Rosenberg

Mario Keßler hat eine neue Biografie des großen Außenseiters der deutschen Geschichtswissenschaft veröffentlicht

Sebastian Haffner nannte ihn einen „Glücksfall“, für den er in Deutschland im 20. Jahrhundert keine Parallele wisse. Als Zeithistoriker habe Arthur Rosenberg (1889–1943) genau das richtige Verhältnis zu den Gegenständen seiner Forschung besessen: beteiligt am Geschehen, aber nicht im Mittelpunkt stehend. Vielleicht ist es diese „Idealdistanz“, die Rosenbergs Studien zu Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik von 1928 und 1935 ihren anhaltenden Reiz verleiht. Wer sich mit der deutschen Geschichte zwischen 1871 und 1933 beschäftigt, kommt jedenfalls bis heute um diese beiden immer wieder aufgelegten Bücher nicht herum.

Dabei war Rosenberg seine Tätigkeit als Zeithistoriker keineswegs in die Wiege gelegt. Er war, in den Worten Hans-Ulrich Wehlers, „ein Mann schroffer Widersprüche“, und als solcher lebte er nicht bloß eines, sondern drei Leben. Der Sohn eines jüdischen Kaufmannes widmete sich zunächst dem Studium der Antike und erwarb bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges den Ruf eines vielversprechenden Althistorikers. Bereits 1914 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität habilitiert, hatte er gegen Ende des Krieges die besten Aussichten auf einen althistorischen Lehrstuhl. Dass es anders kam, lag an einem überraschenden Bruch in seiner politischen Orientierung.

In seinem zweiten Leben wurde Rosenberg zu einem führenden Funktionär der KPD und der Kommunistischen Internationale. Als Angehöriger des „ultralinken“ Flügels um Ruth Fischer und Arkadij Maslow wurde er 1924 in die Zentrale der KPD gewählt und ging im selben Jahr für die Kommunisten in den Reichstag. Einen erneuten Rollenwechsel vollzog Rosenberg 1927. Nach seinem Bruch mit der KPD betätigte er sich in erster Linie als Zeithistoriker, der zunächst noch in Deutschland, ab 1933 im Exil in England und den USA seine Gegenwart kritisch kommentierte und analysierte.

Seinem interessanten Lebenslauf zum Trotz war über Rosenbergs Biografie, abgesehen von den Rahmendaten, bisher relativ wenig bekannt. Dies lag vor allem daran, dass er keinen Nachlass hinterließ. Mario Keßler vom Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam hat nun durch aufwändige Recherchen in zahlreichen internationalen Archiven das zusammengetragen, was an Quellen zu seinem Leben noch zugänglich ist.

In fünf Kapiteln und einem ausführlichen Dokumentenanhang breitet Keßler sein Material aus und bezieht erstmals auch Rosenbergs Jugend und die Zeit seines Exils in die Darstellung mit ein. Dabei fördert er manch Interessantes zutage. So zeigt er Rosenbergs feste Verwurzelung im nationalistischen Akademikermilieu des wilhelminischen Kaiserreichs. Auch Rosenbergs Rolle als kommunistischer Publizist und Politiker hat man so detailliert bisher nicht nachlesen können.

Zu Recht übt Keßler scharfe Kritik an seinen „ultralinken“ Positionen und weist nach, wie sehr er den Wert einer parlamentarischen Republik für die Arbeiterbewegung unterschätzte, da er ja die Revolution unmittelbar erwartete. Völlig unbekannt war bislang Rosenbergs Hinwendung zum Zionismus im US-amerikanischen Exil. Laut Keßler war dies die Folge seiner Abkehr vom deutschen Nationalismus. Noch als kommunistischer Politiker sei Rosenberg dagegen von deutschen Nationalinteressen ausgegangen. Sein Bruch mit den Kommunisten erklärt sich in Keßlers Darstellung damit unter anderem durch die Wandlung der KPD zu einem Instrument sowjetrussischer Außenpolitik.

Wird Rosenbergs Abwendung von der KPD so relativ plausibel, bleibt seine politische Wandlung von 1918/19 eher unverständlich. Hier wie auch an anderen Stellen hätte man sich mehr Gewicht auf der Analyse gewünscht. Das Buch ist über weite Strecken eher deskriptiv gehalten. Das macht sich besonders in dem oftmals zu lang geratenen Referat von Rosenbergs Artikeln und Büchern bemerkbar, wobei die Frage nach ihren ideologischen Grundlagen und ihrem Wert für die heutige Forschung etwas zu kurz kommt.

Keßler porträtiert den späten Rosenberg als einen unermüdlichen Kämpfer gegen leere Schlagworte, Illusionen und politische Lebenslügen, der versuchte Freiheit und Gerechtigkeit, die Grundlagen der Humanität, im Denken und Handeln der Menschen zu verankern. In seinem Bemühen, Demokratie und Sozialismus zusammenzubringen, war er in seiner Zeit ein Außenseiter, der letztlich zwischen allen Stühlen saß. Gerade deshalb aber war dieser kritische Zeitgenosse und innovative Theoretiker, der seine Einsichten immer wieder an der Realität überprüfte, tatsächlich ein Glücksfall.

SEBASTIAN ULLRICH

Mario Keßler: „Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889–1943)“. Böhlau Verlag, Köln u. a. 2004, 336 Seiten, 39,90 Euro