Opernparadies

Rund achtzig Operntruppen bringen in Deutschland Musiktheater auf die Bühne, flächendeckend von Aachen bis Görlitz und von Rostock bis Freiburg. Mehr als fünftausend fest angestellte Orchestermusiker spielen zur Erbauung des Publikums, fast dreitausend hauseigene Chorsänger stellen ihre Stimmen zur Schau, rund 1.500 Solisten exponieren sich in den Ensembles. Gemeinsam stemmen sie rund siebentausend Opernabende pro Jahr, davon mehr als sechshundert neue Produktionen.

Und sie tun es keinesfalls vor leeren Sälen, im Gegenteil. Jahr für Jahr strömen in Deutschlands Opernhäuser so viele Zuschauer wie in die Stadien der Fußball-Bundesliga – rund zehn Millionen Menschen, rechnet man alle Genres des Musiktheaters zusammen. Noch mal die gleiche Zahl an Gästen kommt ins Sprechtheater – alles in allem bringen Deutschlands Stadt- und Staatstheater alljährlich 20 Millionen Tickets unters Volk. Nach der jüngsten Statistik nehmen sie knapp 400 Millionen Euro damit ein, der Staat schießt 2,1 Milliarden Subventionen zu. Das Gesamtbudget entspricht mithin den Staatsausgaben Lettlands einschließlich Sozialversicherung, und es liegt deutlich höher als das gesamte Bruttosozialprodukt vieler Länder auf der Welt.

Deutschland besitzt ungefähr so viele Opernhäuser wie der gesamte Rest der Welt. Selbst klassische Kulturnationen wie Italien oder Frankreich bringen es gerade auf ein Dutzend staatlich finanzierter Musiktheater mit ganzjährigem Spielbetrieb, in Spanien sind es nur zwei. Ohne Deutschlands Klein- und Kleinstbühnen wären viele Karrieren internationaler Stars gar nicht vorstellbar, nur hier gibt es die Chance auf ein erstes Engagement. Und während Oper andernorts zur offiziösen Haupt- und Staatsaktion gerät, mit hohen Ticketpreisen und dem Hang zu sozialer Exklusion, gibt sich hierzulande auch die hohe Kunst ganz demokratisch.

Im Guten wie im Schlechten ist der deutsche Opernbetrieb symptomatisch für das ganze Land. Die Bundesrepublik ist reich, aber unfähig, sich dieses Reichtums zu erfreuen. Die Zukunftschancen stehen nicht schlecht, aber die Diskussion verläuft, als stünde der Untergang bevor. Die Experten sind sich einig, welche Reformen nötig sind, aber sie gehen im Geflecht der Interessengruppen unter.

Das Einzige, was aus der weltweit reichsten Opernlandschaft grell nach außen dröhnt, sind laute Klagerufe. Kaum streicht der kommunale Kämmerer mal wieder ein paar Planstellen, wird lauthals der „Kulturabbau“ beklagt. Damit haben die Intendanten dem Ruf der Branche nach Kräften selbst geschadet. „Oper“ und „Theater“ sind für weite Kreise längst Synonyme für Kunstformen im Niedergang. Selbst in hauseigenen Werbebroschüren jammert mancher Theaterchef herzerweichend. Das ist, als würde Volkwagen-Boss Bernd Pischetsrieder im neuen Golf-Prospekt über die Absatzkrise jammern.

Dabei halten sich die Verluste – bislang – in engen Grenzen. Selbst im Osten Deutschlands, wo die SED den scheinbar unpolitischen Opern- und Konzertbetrieb nach Kräften förderte und den notorisch klammen neuen Bundesländern insgesamt rund dreißig Opernhäuser hinterließ, wird an fast jedem Standort noch immer Mozart oder Verdi gespielt, werden für nur zwanzig Prozent der Bevölkerung 35 Prozent der Musiktheater bereitgehalten. Nur das Land Brandenburg hat drei seiner vier Opernensembles abgeschafft. Allein im pompösen Jugendstil-Staatstheater des hauptstadtfernen Cottbus wird das Genre noch gepflegt, dort allerdings auf höchstem Niveau. RAB