Leben in der Schublade

Sind wir nicht alle ein bisschen spießig? Nein, sind wir nicht! Aber dazu später. Zunächst widmen wir uns der Frage: Was soll das eigentlich sein, Spießigkeit?

VON CHRISTOPH SCHULTHEIS

„Also ich finde Sofas auf Fernseher auszurichten ziemlich spießig, dagegen Fernseher auf Sofas auszurichten ziemlich cool.“

(Aus einem Internetforum zum Thema Spießigkeit)

Puma, der Sportbekleidungshersteller, hat vor nicht allzu langer Zeit mal den „Pinstripe-Suit“ erfunden. In limitierter Auflage, durchnummeriert und für schlappe 290 Euro pro Stück. Es handelt sich dabei um einen Trainingsanzug mit Nadelstreifenoptik. Beworben hat Puma das Ding aus 70 Prozent Wolle, 28 Prozent Polyester und 2 Prozent Elastan mit dem Spruch „Neue Spießigkeit trifft Retro“, und besser hätte man es wahrscheinlich gar nicht auf den Punkt bringen können: Was Natürliches, was Künstliches und was, was sich anpasst, trifft was Überkommenes. Aber worüber reden wir hier eigentlich?

Der ewige Spießer

Schließlich ist es noch gar nicht lange her, dass sich schon andere mit dem Thema „Spießigkeit“ beschäftigt haben – vor rund 75 Jahren etwa der damals 27-jährige Schriftsteller Ödön von Horváth. Jüngst feierte das Thema fröhliche Urständ (was ziemlich spießig klingen könnte, wenn es hier nicht genau so gemeint wäre). Aber der Reihe nach: Horváths Roman „Der ewige Spießer“ spielt heutzutage eigentlich keine Rolle mehr, klingt aber irgendwie zeitlos aktuell. Außerdem hat er dem Ganzen ein kurzes Vorwort vorangestellt, wonach der Spießer „ein hypochondrischer Egoist“ ist und derjenige, der den alten Typ des Spießers verhöhnt, „bestenfalls ein Spießer der Zukunft“.

Womit wir – 75 Jahre später – in der Gegenwart angekommen wären: „Hilfe, wir verspießern!“, hieß es kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Und es dauerte nicht lange, da ging es auch im „SZ-Magazin“ der Süddeutschen Zeitung seitenweise um nichts anderes. „Unsere kleine Welt“ hieß die Sache dort, und seitdem (und erst mal sensibilisiert) taucht das Thema quasi an jeder Straßenecke auf: mal als „persönliche Vergreisung“ verkleidet in der Berliner Zeitung, mal in den familiären Patchworkfantasien von Alexa Hennig von Lange, und als die taz jüngst Geburtstag feierte, natürlich auch dort. Außerdem sind da ja auch noch der jeweilige Freundes- und Bekanntenkreis, wo nicht nur das „SZ-Magazin“ flugs fündig wurde, während die FAS ihre Spießer lieber bei Ikea und im Swingerclub gesucht (und gefunden) hat. Ihre Kronzeugen sind deshalb auch – neben einer Volkskundlerin und einem Kulturanthropologen – ein gewisser „Reiner“, eine Blondine, Sabrina Setlur, eine Ikea-Kundin, ein Rentnerpaar, ein Spanier und noch eine Blondine, während das „SZ-Magazin“ dann doch lieber noch Farin Urlaub und Florian Illies herbeizitierte, Heinrich Heine und Carl Spitzweg, Raoul Haussmann und Adolf Hitler, Helmut Kohl und Günter Grass, Harald Schmidt und Heike Makatsch, Lignet Rosé und Schwäbisch Hall … Erstaunlich an den beiden unterschiedlichen Grundsatztexten allerdings ist, wie sehr sie sich in ihren Schlussfolgerungen gleichen: „Spießer sind immer die anderen“ steht wortgleich hier wie dort ziemlich am Anfang, und am Ende heißt es: „Wir sind längst alle kleine Spießer.“ Beziehungsweise: „In gewisser Weise sind wir alle Spießer, und im Jahr 2004 sind wir es mehr denn je.“ Und das könnte man so stehen lassen. Wenn es denn wahr wäre.

Mein Freund, der Spießer

Doch mit Verniedlichungen kommt man nicht weiter. Und mit einem neuen Kanon der kleinen Spießigkeiten auch nicht. Mag sein, „der Wunderbaum am Autorückspiegel hat die eingehäkelte Klorolle auf der Hutablage abgelöst“, wie die FAS schrieb. Klaro, nach dem selben Muster lassen sich unzählige andere Sätze generieren – bisweilen ein unterhaltsames Spiel. Schließlich ist auch ein Carpaccio nichts anderes als Hackepeter, sind „Like-A-Bike“-Holzlaufräder ziemlich puh. Und über die Klassiker aus dem Reihenhausidyll reden wir lieber im Einzelfall. Darum geht es nicht: „Mein Freund ist echt total der Spießer!“, sagt die Freundin zur Freundin, verdreht die Augen und geht hernach trotzdem mit ihm ficken. So ist das heute.

Doch bloß weil Alter und Verantwortung gewisse „Veränderungen“ mit sich bringen und guter Rotwein oder gute Kinder bei vielen eine zunehmend wichtigere Rolle spielen, ist noch keiner ein Spießer, auch kein kleiner. Wahrscheinlich ist das zunächst mal nur so ein Zeitgeist- und Generation-Dingsbumsding, was für Thirtysomethings also, jedenfalls für solche, denen die Angst vor der Verspießerung – oder besser: die Angst vor dem Verdacht der Verspießerung – im Nacken sitzt. Gut möglich, dass manch einer da Verhaltensweisen und Vorlieben wiedererkennt, die wir bereits in früheren Jahren fälschlicherweise für spießig hielten und deshalb auch jetzt dafür halten. Sätze wie „Das mag jetzt vielleicht spießig klingen …“ wären dann nichts weiter als Koketterien: mal anprobieren, wie es sich anfühlt – denn, hey, sind wir nicht alle ein bisschen spießig?

Aber ein bisschen spießig gibt es genauso wenig wie, abermals hey, ein bisschen schwanger (oder ein bisschen Neonazi, wem das lieber ist). Zudem klingt mir das ein bisschen resignativ – und falsch: Wir wissen alle, dass von der Witzischkeit, sich mal 'nen röhrenden Hirsch vom Flohmarkt in die Wohnung zu hängen, eines Tages nur noch der röhrende Hirsch übrig bleibt. Das ist was für Sozialhomöopathen. Dem ursprünglichen Spießer aber, an dem der Verunsicherte den eigenen Spießigkeitsgrad misst, war (und ist) dergleichen gänzlich fremd. Der Spießer-Urtyp kennt die Vokabel, wenn überhaupt, weder als Selbstbeschreibung noch als Schimpfwort. Keine Ahnung, warum er sich die umhäkelte Klorolle auf die Hutablage tut. Womöglich hat er selbst darüber niemals nachgedacht – womit wir dem Wesen der Spießigkeit übrigens schon ein gehöriges Stück näher gekommen wären.

Spießer sind überall

Immerhin ist mit der Zeit aus dem Spießbürger der Spießer geworden – mit Recht, denn natürlich hat er sich auch jenseits von Gemüt- und Bürgerlichkeit breit gemacht. Längst findet man ihn ebenso in Altbauwohnung, Loft und Wagenburg, es gibt Sozialhilfe-Spießer, Techno- und Antifa-Spießer, es gibt ihn mit Titanic-Abo oder als Spießerpärchen und Spießersingle, Spießer, Spießerin und SpießerIn. Zudem ist aus dem absoluten Begriff offenbar ein relativer geworden. „SZ-Magazin“ und FAS, um ein allerletztes Mal darauf zurückzukommen, machen für die neue Spießigkeit „ein Zuviel an Informationsschnipseln“ und „die Mode“ verantwortlich, die „jedes Aufbegehren im Nu zum Mainstream erhebt“.

Wer weiß, womöglich haben wir wirklich ein Problem mit der zunehmenden Verschubladung. Im selben Maße, wie sich die Welt verästelt, verfestigt sie sich auch. Und wo aus jeder Nische gleich eine Marktlücke wird, wäre schon Spießer, wer irgenwo dazugehört. Oder sich dazugehörig fühlt. Okay. Allerdings ist dann der Trend zur Verspießerung, der „uns“ womöglich umtreibt, auch einer der fehlende Ideen, des Sich-zufrieden-Gebens, ein Problem des Mangels also. Oder eines der Fahrlässigkeit. Glückliches Land, das dann ein Wort wie Spießer parat hat! Glückliche Zeit, in der es sich sogar mit einem Augenzwinkern sagen lässt, von dem man ggf. schnell behaupten kann, es sei bloß ein bedeutungsloses Blinzeln gewesen. Doch was bedeutet das? Wer sich vorm Biss ins Hackepeterbrötchen fragt, ob das jetzt wohl in Ordnung geht, für den wird das Nichtspießertum schnell zum Spießrutenlauf. Im Ernst: Das bringt doch nichts. Denn die Frage ist nicht, ob Hackepeterbrötchen spießig oder unspießig sind, sondern ob's einem schmeckt. Anders gefragt: Wer will schon andauernd und jederzeit seine eigenen Handlungen und Haltungen auf die Goldwaage legen? Und die einzig zulässige Antwort darauf lautet: Ich! So einfach ist das. Die Spießigkeit, sie liegt im Auge des Betrachters – solange er dabei in den Spiegel schaut.

Danach ergibt dann sogar der eingangs zitierte großartige Satz von den Sofas und den Fernsehern einen Sinn. Denn dann ist Spießigkeit zu guter Letzt mitnichten eine Frage der Gesinnung, keine Ansichtssache, sondern liegt in der Tat in der Tat.