Verletzlicher Körper

Jahrelang hat Schultze nur Polka gespielt. Doch dann gerät er in Aufregung. In Michael Schorrs Debütfilm „Schultze gets the Blues“ gibt Horst Krause den massiven Helden als zartes Pflänzchen

VON ANKE LEWEKE

Schon das Quietschen der Hollywoodschaukel hat etwas unglaublich Gedehntes, als wolle sie sich genauso viel Zeit lassen wie ihr Besitzer beim Biertrinken. Jeden Schluck genießt Schultze in aller Ruhe und Ausführlichkeit, während sich sein Blick in der unendlichen Weite der ostdeutschen Provinz verliert. Manchmal seufzt Schultze vor sich hin, denn nicht einmal ein Wölkchen zieht am Horizont vorbei. Behutsam gibt er sich und der Schaukel einen neuen Stoß, ihr rostiges Knarren und das Rauschen des Windes verbinden sich in „Schultze gets the Blues“ zum Sound eines einsamen Lebens.

Dabei hat die trostlose Schrebergartenszenerie durchaus auch etwas Komisches. Michael Schorrs Spielfilmdebüt übernimmt die verlangsamte Wahrnehmung seines verdrucksten Helden, und ganz allmählich kommt die Absurdität eines Lebens zum Vorschein – zwischen Gartenzwergen, schweigsamen Vereinssitzungen und Akkordeonübungen fürs örtliche Musikfest. Michael Schorr lässt der Provinz ihre Würde, begibt sich auf die Suche nach den kleinen Momenten des Aufbegehrens, sein Film setzt ein kleines Denkmal für die Stehaufmentalität der Dörfler. Es geht um Menschen, die zwischen stillgelegten Kalibergwerken ihre Grillpartys feiern, überleben, sich einrichten.

Da baut sich einer ein Haus und muss feststellen, dass die Terrasse auf der Nordseite liegt. Aber statt zu lamentieren, genehmigt man sich erst mal einen kräftigen Schluck. Was machen mit den hässlichen Bergkristalllampen, die Schultze und seine Kollegen zur Frühpensionierung als Abschiedsgeschenk erhalten? Potthässliche Teile, „aber immerhin echt!“, wie einer der Kumpels nach vollzogenem Geschmackstest anerkennend feststellt.

Auch hinter Schultzes Behäbigkeit scheint ein ungeheurer, fast subversiver Trotz verborgen. Zunächst wirkt sein massiger Körper in Schorrs ruhigen und raumgreifenden Totalen wie verloren. Durch die Küchentür blickt die Kamera ins Junggesellenwohnzimmer, wo jedes Kissen seinen Platz hat und drei Bücher im Regal stehen. Schultze, ein Eingesperrter in den eigenen vier Wänden. Ein Mann, dem nach mehr zumute ist, obwohl er noch nicht weiß, wonach.

Behutsam, als handele es sich um ein zartes Pflänzchen, beobachtet Schorr seinen Helden bei ersten zaghaften Ausbruchsversuchen. Obwohl Schultze eine Brille trägt, muss er ständig blinzeln, als wolle er die Welt neu fokussieren. Tatsächlich wird sich sein Blick immer schärfer stellen, plötzlich nimmt er die charmante Zimmergenossin seiner Mutter im Altersheim wahr. Ganz Kavalier, wird er den viel zu kleinen Hut für seinen viel zu großen Kopf abnehmen und sich höflich vorstellen.

Über zehn Jahre hat Michael Schorr an dem Projekt gesessen, stets Horst Krause als Schultze vor Augen gehabt. Schon als Joachim Króls zurückgebliebener Bruder in Detlev Bucks „Wir können auch anders“ entwickelte der Schauspieler diskrete Größe. Ausgerüstet mit einem unverwüstlichen Stoizismus, scheinen alle Widrigkeiten des Lebens an seinem mächtigen Körper abzuprallen. In der Rolle des Schultze entwickelt Krause eine nun ungeahnte Verletzlichkeit, wirken seine behäbigen Bewegungen manchmal ganz sanft.

In jener einen Szene, die man immer wieder sehen möchte, gerät sein ansonsten eher zurückhaltendes Mienenspiel gar in helle Aufregung. Jahrelang hat Schultze unter dem Foto seines Vaters die ewig gleiche Polkamusik auf dem Akkordeon heruntergeleiert. Zufällig hört er eines Nachts im Radio ein dissonantes Südstaatenstück, das so ganz anders klingt. Zum ersten Mal zeigt die Kamera Schultzes Gesicht in Großaufnahme: Der Kopf leicht schräg, die Augen weit aufgerissen, die Stirn in überdimensionale Falten gelegt – endlich hat der Mann seinen eigenen Sound gefunden.

Wie stets wird sich Schultze auch beim Eingrooven viel Zeit lassen und die neu gefundenen schrägen Töne Takt für Takt in vollen Zügen genießen. Erst serviert er den Freunden ein scharfes Gericht vom Mississippi, dann präsentiert er beim Musikfest die neue Melodie. Ein heroischer Akt, denn abweichlerisches Verhalten wird in Schultzes Kaff nicht gern gesehen.

Michael Schorr schickt Schultze bis ans Ende der Welt, in jenes Land, das immer noch synonym mit den Ausbruchssehnsüchten des kleines Mannes ist. In „Schultze gets the Blues“ begegnen wir einem Amerika, das sich vom deutschen Osten kaum unterscheidet. In der amerikanischen Fremde wirkt Schultze nicht weniger verloren als im heimischen Türrahmen, doch ist er bei sich selbst angekommen. Ganz ich, ganz eins, ganz Schultze. Selten hat man im Kino eine so zarte, leise Reise gesehen.

„Schultze gets the blues“. Regie: Michael Schorr. Mit: Horst Krause, Horst Krause, Horst Krause … u. a. Deutschland 2003, 110 Min.