„Unser Problem ist nicht die Alterung, sondern eine Politik ohne Ideen“, sagt Hans Bertram

Weniger Kinder, mehr Alte. Wird die Zukunft also grau? Nein. Denn die Demografie ist nicht unser Schicksal

taz: Herr Bertram, eine Studie hat gezeigt, dass die Geburtenrate in Cloppenburg in Deutschland am höchsten ist. Warum ausgerechnet dort?

Hans Bertram: Das ist eine tief katholische Gegend. Man mag das heute nicht so gerne hören – aber religiöse Traditionen spielen bei der Frage, wie viel Kinder man bekommt, noch immer eine große Rolle.

Kinderbetreuung und wirtschaftliche Lage sind also nicht so entscheidend?

So ist es. Die Frage – Kinder ja oder nein – richtet sich nicht nach wirtschaftlichen Kriterien. Das ist doch ganz schön.

Wonach dann?

Es gibt eine einleuchtende These, die besagt: Leute bekommen Kinder, wenn sie die für ihre eigene Zukunft für wichtig halten.

Kann man wissenschaftlich erklären, warum manche Leute Kinder bekommen – und andere eben nicht? Oder ist diese Entscheidung zu komplex, um wirklich beantwortbar zu sein?

Wir können das nicht definitiv erklären. Die verschiedenen Hypothesen beziehen sich ja auch auf die Vergangenheit. Wir versuchen also zu klären, warum es kam, wie es gekommen ist. Man kann sich aber einzelne Gruppen genau anschauen. Bei jungen Akademikerinnen weiß man etwa, dass sich ihre Lebensplanung während des Studiums verändert. Am Anfang des Studiums wollen viele Kinder haben, am Ende wenige. Eine andere Frage ist, ob man diesen Prozess beeinflussen kann. Ich bin da sehr ambivalent.

Trotz der Skepsis: Was wäre Ihre Idee?

Nordeuropa, Frankreich und die USA haben gestufte Bildungsgänge. Die jungen Leute können nach einem ersten Universitätsabschluss früher selbstständig werden. Sie können also zum Beispiel fünf Jahre als Lehrer arbeiten, und, wenn sie wollen, später weiterstudieren. Das ermöglich eine größere Vielfalt an Lebensverläufen. Das brauchen wir in Deutschland auch.

Alterung und Bevölkerungsschwund sind derzeit die zentrale Zukunfts- und Angstvorstellungen. Die Stichworte lauten: Leere Städte, Altersarmut, härtere Kämpfe um ein schrumpfendes Bruttosozialprodukt. Ist das realistisch? Oder ist da eine deutsche Neigung zur Katastrophe im Spiel?

Es gibt eine Art demografische Krisenstimmung, die stark von Projektionen bestimmt wird. Der französische Historiker Fernand Braudel hat gezeigt, dass es solche Alterungsprozesse immer schon gegeben hat. Es kommt darauf an, wie wir gesellschaftspolitisch reagieren. Unser Problem ist nicht die Alterung, sondern die Verschwendung von Humankapital. Denn wir gehen davon aus, dass niemand, der älter als 60 oder 65 ist, produktiv sein kann. Das ist eine historisch ganz neue Vorstellung, die erst seit den 70er-Jahren existiert.

Vielerorts heißt es doch: Die Demografie ist unser Schicksal.

Nein. Das stimmt so nicht. Die düsteren Prognosen werden nur eintreten, wenn wir es nicht schaffen, das wachsenden Potenzial von älteren, noch produktiven Menschen einzubeziehen. Das ist kein Schicksal, sondern Politik. Wenn wir nur auf die Demografie starren und uns in Schreckensszenarien vertiefen, wird das eine self-fulfilling prophecy.

In der Wirtschaft existiert die Tendenz: um so jünger, um so besser. Lässt sich die Ächtung des Alters in der Ökonomie verändern?

Zwei Beispiele: Kalifornien hat, aus Sparzwängen, mal die Altersgrenzen für Universitäten aufgehoben. Wer als Professor noch länger arbeiten wollte, konnte das fortan tun. Ich bin 58 und werde in sieben Jahren aufhören müssen, weil ich dann offenbar so alt und krank bin, dass ich nicht mehr arbeiten kann. Das ist eine unsinnige Regel. Beim Fernfahrer, der mit 55 sein Job kaum noch machen kann, sieht das natürlich anders aus.

Aber der Jugendfuror in der Wirtschaft ist ungebrochen, 50-jährige sind schwer vermittelbar. Gibt es Indizien, dass sich dies ändert?

Ich glaube nicht, dass eine homogene, junge Belegschaft wirklich effektiver ist als eine altersgemischte. Das Problem ist eher das gängige Bezahlungssystem: Die Älteren sind teurer. Faktisch wirkt dies als Anreiz, Ältere auszumustern. Das ist die falsche Richtung.

Eine wesentliche Angstvorstellung bezieht sich auf die zukünftige Rente: Entweder wir nehmen Altersarmut in Kauf – oder wir belasten die weniger werdenden Jüngeren über die Maßen. Ist das unausweichlich?

Nein, auch das kein naturwüchsiger Prozess, sondern eine politische Frage. Der entscheidende Punkt ist, dass wir Ältere, die dies können, motivieren müssen, so lange wie möglich zu arbeiten. Im Moment passiert exakt das Gegenteil. Dabei war dies früher durchaus anders. In der Schweiz haben nach 1945 zum Beispiel 40 Prozent der Männer über 65 gearbeitet.

Also ist mehr Flexibilität gefragt?

Ja, und die müssen wir allen abverlangen: der Wirtschaft und den Einzelnen. Warum muss ein Lehrer aus Berlin-Neukölln, der mit 55 verständlicherweise ein Burn-out-Syndrom hat, in Rente gehen? Warum lernt er nicht etwas Neues und arbeitet in dem Job? Das Kernproblem ist, dass wir die starre Dreiteilung des Lebens überwinden müssen: erst lernen, dann möglichst viel arbeiten, dann Rente. Das ist nicht mehr angemessen, nicht nur weil dabei offenbar zu wenig Zeit fürs Kinderkriegen bleibt.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE