Der Menschenleser

Gene Hackman spielt immer wieder Figuren, die andere überwachen – in Coppolas „The Conversation“ (1973) genauso wie in der aktuellen John-Grisham-Verfilmung „Das Urteil – Jeder ist käuflich“. Doch die Techniken der Überwachung haben sich geändert – im Film wie in der Wirklichkeit

Es gibt keine Gleichen mehr, nur noch kleine Unterschiede. Diese kann man lesen Kundenprofile sind zur Ware geworden. Jeder ist käuflich,weil jeder einkauft

VON DIETMAR KAMMERER

Will man die Veränderungen ermessen, die das Bild vom Menschen als moralisch durchschaubarem Wesen im Hollywood-Kino der vergangenen dreißig Jahre durchlaufen hat, bietet sich ein genauerer Blick an auf eine Figur, die schon von Berufs wegen an einem Blick hinter die Fassaden, am Aufstöbern der „dirty little secrets“, interessiert ist: auf den Privatdetektiv. Der Schauspieler Gene Hackman hat seit Beginn seiner Karriere die Figur des „private eye“ – und seiner zahlreichen Verwandten: Undercover-Polizist, FBI-Agent, Ex-Geheimdienstler – gleich in mehreren Filmen verkörpert.

Bereits in „The Conversation“ (1973) von Francis Ford Coppola spielte Hackman den Abhörspezialisten Harry Caul, der im Auftrag eines reichen Firmeninhabers ein junges Paar beschattet. Wie sich herausstellt, ist die Frau die Ehefrau seines Auftraggebers, die anscheinend versucht, vor ihrem wesentlich älteren Gatten ein Verhältnis mit einem Jüngeren zu verbergen. Caul bekommt Gewissensbisse und beschließt, seinen professionellen Codex zu verletzen und seinem Kunden die geforderten Informationen vorzuenthalten, vielleicht aus Empathie für eine Liebesbeziehung, zu der er selbst nicht imstande ist. Als die Fotos und Tonbänder durch einen Diebstahl doch ihren Empfänger erreichen, versucht ein zusehends zerrütteter Caul aufzuhalten, was er als unvermeidliche Konsequenz ansieht. In einem Hotelzimmer wird er Zeuge eines Mordes, den er hilflos durch eine Milchglasscheibe beobachtet. Erst zu spät erkennt der gescheiterte Schnüffler, dass er bereits die ganze Zeit hinters Licht geführt wurde und nur als Bauernopfer in einem größeren Komplott herhalten musste. Caul wurde selbst überwacht, aber er wird nie herausfinden, von wem. In der berühmt gewordenen letzten Einstellung des Films demoliert er voller Verzweiflung seine Wohnung auf der Suche nach Abhörwanzen, ohne einen Hinweis zu finden, während das Auge der Filmkamera in einer überwachungstypischen Bewegung ungerührt-mechanisch über die Szenerie schwenkt. „Der Dialog“ (so der deutsche Verleihtitel) war trügerisch, das Paar im Park, dessen Gespräch Caul abhörte, hat darin nichts über sich preisgegeben.

Ähnlich desolat endete Hackmans Figur in Arthur Penns „Night Moves“ (1975). Als Privatdetektiv Harry Moseby hat er außer dem Vornamen allerdings nicht mehr viel gemeinsam mit dem kühlen Technikexperten Caul. Moseby ist von Beginn an ein „Loser“, einer, der nicht einmal verhindern kann, dass seine eigene Frau ihn betrügt. Auch hier entpuppt sich ein scheinbarer Routine-Auftrag als Desaster, wie in einem Shakespeare’schen Drama häufen sich um den Detektiv die Leichen der Menschen an, die er retten wollte. Dominik Graf nennt den Neo-Noir-Streifen „ein perfektes Abbild verlorener Illusionen“, den kältesten Film der Ära des New Hollywood. Wer sein Freund, wer sein Feind ist, erfährt Moseby/Hackman immer zu spät. „I didn’t solve anything“, wird er letztendlich eingestehen müssen. Am Ende kreist er schiffbrüchig im weiten Ozean, mit einer Kugel im Bein und geringen Aussichten auf Rettung. Der Name des Kahns – „Point of View“ – klingt wie ein sarkastischer Kommentar auf seine Situation. Zwar weiß Moseby nun, wer der Drahtzieher war, aber der liegt unter ihm im Cockpit eines abgestürzten Flugzeugs auf dem Meeresboden. Die Erkenntnis in „Night Moves“ ist fatal, ein „Licht, das einen erblinden lässt“, wie Graf notiert. Mit Mühe sieht man gerade einmal, dass man in der menschlichen Seele gar nichts sehen kann, erst recht nicht die Wahrheit.

1990 schreibt der Philosoph Gilles Deleuze seinen viel beachteten Essay zur Zukunft der „Kontrollgesellschaften“. Seine Prognose: Statt der „Seelen“ der Individuen werden künftig ihre „Chiffren“ unter Beobachtung gestellt werden. Jedes Kollektiv kann durch „Stichproben, Daten, Märkte oder (Daten-)Banken“ vollständig dargestellt werden. Abgelöst wird also ein Bild vom Menschen als Individuum mit einer Innerlichkeit, deren Abgründe niemals vollständig auszuloten sind. Damit ändern sich auch die Koordinaten von Hackmans Figuren. 1998 macht er mit seiner Rolle als renegater Ex-Geheimdienstler, der einem unschuldig zum Opfer gewordenen Will Smith aus der Patsche hilft, in Tony Scotts „Enemy of the State“, sein Versagen in „The Conversation“ quasi durch Hightech-Videoüberwachung wieder wett. Wo Moseby und Caul an der Undurchdringlichkeit der menschlichen Seele gescheitert sind, wird der Hackman-Charakter sich künftig aufs Offensichtliche der Oberflächen verlassen können. So auch in der neuesten John-Grisham-Verfilmung „Das Urteil“ (2004) von Gary Fleder. Ein Mann wird in seinem Büro von einem Amok laufenden Kollegen erschossen. Seine Frau verklagt den Hersteller der Mordwaffe, sie macht dessen fahrlässige Verkaufspolitik für den Tod ihres Mannes verantwortlich. Die Waffenindustrie will gegen die Witwe nicht verlieren, es geht um reichlich Geld in diesem Prozess, und um noch viel mehr in denen, die auf einen Präzedenzfall folgen könnten. Über Frei- oder Schuldspruch entscheidet eine Jury aus Geschworenen. Also engagiert die Verteidigung den Berater Rankin Fitch (Gene Hackman).

Dass ein Geschworenengericht eingesetzt wird, damit Gleiche über Gleiche urteilen, hält Fitch für einen Treppenwitz der Rechtsgeschichte. Seine Sicht der Dinge: Manche Urteile sind zu wichtig, als dass man sie Amateuren überlassen könnte. Fitch ist professioneller „trial consultant“, ein Dienstleister im Rechtswesen. Er entscheidet über die Annahme oder Ablehnung der Geschworenen. Er weiß, in einer hoch differenzierten Gesellschaft gibt es keine Gleichen mehr, sondern nur mehr Unterschiede: im Einkommen, in der Kleiderwahl, in der beruflichen Anstellung, in der Auswahl der Ferienorte, in der bevorzugten Bettlektüre. Kennt man diese Daten, weiß man, wie eine Person zu einer bestimmten Frage entscheiden wird – und zwar im Idealfall noch bevor sie es selbst weiß.

Das ist keine Gedankenleserei, sondern angewandte Sozialwissenschaft à la Bourdieu. Der französische Soziologe hat diesen Zusammenhang das „ontologische Einverständnis“ zwischen gesellschaftlichem Feld und persönlichen Vorlieben (Habitus) genannt. Fehlt ihm auch der moralische Impetus des Franzosen, so ist Fitch doch, zumindest in dieser Hinsicht, ein Soziologe der kleinen Details. Also schickt er ein Team aus, das ihn mit den notwendigen Informationen über die Jury-Anwärter versorgt: Krankenakten, Dienstzeugnisse, Einkaufslisten, Kontoauszüge. Bei der ersten Anhörung entgeht ihm nicht die kleinste Geste in der Körpersprache: wie eine Frau ihre Hände knetet, wie ein Mann den Blickkontakt mit dem Richter verweigert. Wer ein Menschenkenner wie Fitch werden will, kann sich das nötige Wissen dazu einfach aus einer ganzen Reihe von Sachbüchern aneignen. Diese tragen Titel wie „Reading People“, „Peoplewatching“ oder „I Know What You're Thinking“ und gehen alle von derselben These aus: Der Mensch ist lesbar. Und wer sein Gegenüber schneller durchschaut als dieses sich selbst, wird den Sieg davontragen.

Auf solchen Lesbarkeiten beruhen nicht nur Strategien im Gerichtssaal. Ähnliche Techniken werden überall dort angewandt, wo Fremde zu offenen Büchern werden sollen. Payback-Karten, von großen Warenhausketten an die rabattfreudige Klientel ausgegeben, machen aus Kunden Steinbrüche der Information. Wer sich einen Kinderwagen kauft, wird demnächst ein Prospekt mit Spielzeugangeboten ins Haus bekommen. Ein Internet-Buchhändler erstellt Vorschlaglisten von Buchtiteln, basierend auf früheren Bestellungen. „Jeder ist käuflich“, weil jeder einkauft. Leben heißt nicht, Punkte zu sammeln, sondern Spuren zu hinterlassen. Die in Datenbanken gespeicherten Kundenprofile sind selbst zu einer begehrten Ware geworden, mit der gehandelt wird. „Customer Relationship Management“ und „Data Mining“ umfasst alle Methoden, die aus dem Kunden ein gläsernes Wesen machen sollen. Und die Anwendung beschränkt sich nicht auf effizientere Verkaufsstrategien. Nach den Anschlägen des 11. September haben Unternehmen, die sich auf solche Techniken spezialisiert haben, dem US-Kongress ihre Hilfe bei der Identifizierung von Terroristen angeboten. Ihr Argument: Öffentlich verfügbare Daten über die Attentäter hätten ausgereicht, um die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden direkt auf sie zu lenken.

Wenn Fitch ein Anhänger Bourdieus ist, steht in „Das Urteil“ auf der Gegenseite mit dem Anwalt der Anklage, Wendall Rohr (Dustin Hoffman), ein Habermasianer. Einer, der auf die Kraft des Arguments vertraut und darauf, dass der Mensch ein rational entscheidendes Wesen sei. Wer anders als Hoffman hätte diesen Part übernehmen können? Man könnte, sozusagen als Gegenentwurf zur Karriere der Filmfiguren Hackmans, eine zweite, parallele Linie nachzeichnen. Sieht man sich die Filmografie Hoffmans an, häufen sich in sprechender Weise Titel, die ihn einfach nur als „den“ Menschen adressieren: Er war der „Little Big Man“ (1970), der „Marathon Man“ (1976), der „Salesman“ (1985) und der „Rain Man“ (1988). Die Simplicissimus-Figur, die er in Arthur Penns Spätwestern darstellte, ist seine Rolle geblieben. Hoffman steht für den „kleinen großen Mann“, vollkommen durchschaubar, weil unfähig zur Verstellung.

Auch Rohr instrumentalisiert das Private, wenn er im Gerichtssaal den Geschworenen ein rührseliges Familienvideo des Opfers vorspielt, das den glücklichen Vater beim Kindergeburtstag zeigt, woraufhin dessen Witwe beinahe zusammenbricht. Über solch eine Bildpolitik der Affekt-Erzeugung kann Fitch nur milde lächeln. Der Strippenzieher im Hintergrund hat in einer leer stehenden Fabriketage ein ganzes Arsenal von Bildschirmen, Computern, Datenverbindungen zu dem einzigen Zweck aufgestellt, dass ihm kein Detail verborgen bleibt.

Wenn Fitch/Hackman am enttäuschenden Schluss, den Happy-End-Regeln des Kommerzkinos sei Dank, dennoch (wieder einmal) als Verlierer zurückbleibt, dann sicherlich nicht Wendall Rohrs wegen. Sein wahrer Gegenspieler hat die Lektionen der elektronischen Durchleuchtungsgesellschaft besser verstanden, sitzt in der Jury selbst und hat alle Spuren über sich sorgfältig verwischt. Anfangs spielt der Film geschickt mit der Möglichkeit, dass Jury-Mitglied Nick Easter (John Cusack), selbst ein Meister im Durchschauen und Manipulieren seiner Mitmenschen, den Ausgang des Gerichtsverfahrens an den Meistbietenden verkaufen könnte. Dass er es nicht tut und auch niemals vorhatte, wird klar, sobald Fitch – wenn auch zu spät – die entscheidende Information über ihn in Erfahrung bringt. Der Clou: Auch Easter wäre durchschaubar gewesen, und er hat strikt so gehandelt, wie sein „Habitus“, seine Lebensgeschichte es ihm vorschreiben.

Doch die Abgründe der menschlichen Seele und die moralischen Ambivalenzen, im New Hollywood noch zentrales Erkenntnisproblem und Motor der filmischen Erzählung, sind die Sache des zeitgenössischen Kinos nicht mehr. Bösewichter und solche, die ein doppeltes Spiel treiben, versinken mit ihren Geheimnissen nicht mehr unerreichbar auf dem Meeresboden. Sie löschen einfach ihre Files.