Nackte Tatsachen

Die Vergangenheit als Pfund: Warum es George Michael, Janet Jackson oder Prince als Popstars von gestern trotzdem schaffen, in Zeiten der Krise und immer wieder neuer junger Popsternchen einen Großteil medialer Aufmerksamkeit auf sich zu lenken

George Michael zeigt, dass er souveränüber die Logikder Erregung verfügtJanet Jackson ist ein Coup gelungen, wie man ihn bislang nur von Madonna kannte

VON HARALD FRICKE

In letzter Zeit ist einiges an kulturellem Kapital radikal umverteilt worden. Britney und J.Lo statt Madonna, Justin Timberlake statt Michael Jackson. Während bei „Star Search“ per TED ermittelt wird, wer den Pop der Zukunft definiert, geht unter den etablierten Größen im Musikgeschäft die Angst vor dem Absturz um. Wenn schon die Plattenfirmen ihre Vorstandsetagen säubern, dürfte auch auf der Produktebene mit einem dramatischen Wandel zu rechnen sein. Vielleicht kann man die Situation mit der Automobilindustrie der Siebzigerjahre vergleichen: Nachdem der Markt mit der Ölkrise eingebrochen war, stagnierte der Absatz praktisch bei allen Marken. Dann kam der Golf, und alles wurde besser. Nicht wie früher zwar, aber immerhin nicht noch katastrophaler. Bis zur nächsten Krise. Doch da war der Käfer – zuvor über Jahrzehnte das uneingeschränkte Symbol populärer Autokultur – schon fast vergessen.

Einen ähnlichen Bruch, wenn nicht Paradigmenwechsel scheint die Popbranche zu durchleben. Wen kümmert Sting oder irgendein anderer abgehalfterter Eighties-Entertainer noch, wenn neben ihm täglich ein Dutzend knackig junger Nachwuchssänger um einen Platz in den Charts buhlt? Schließlich hatte er seine goldene Zeit, jetzt bleibt ihm nur mehr eine graue Nische: Auf VH-1, dem Kanal für erwachsene MTV-Zuschauer. Popfernsehen für alt Gewordene mit festem, wenn auch dahinschmelzendem Anhang? Das ist mindestens so schlimm wie die Aussicht, als Oldie im Zehnerpack einer New-Wave-Kompilation verscherbelt zu werden. Eben noch für seine Individualität hoch geschätzter Einzelkünstler, ist er nun eher Beleg für eine abgeschlossene Epoche, ein Backstein mehr im Mauerwerk der Geschichte.

Bei solchen Aussichten ist es erstaunlich, dass momentan gleich mehrere Popstars von gestern ein Comeback versuchen –und damit durchaus erfolgreich sind. George Michael steht mit seiner neuen CD „Patience“ ganz oben in den Bestsellerlisten; Janet Jackson wird beworben wie das Ereignis, auf das alle gewartet haben; und Prince gilt wieder als Prince, der er schon vor 15 Jahren war. Natürlich gibt es für dieses Phänomen zahlreiche Erklärungen: Retro ist schwer in Mode; die Ausnahme gilt erst recht, je starrer die Regeln; und außerdem hat sich der Dancefloor mit all seinen lose gekoppelten Projekten und Experimenten dermaßen verfranst, dass in der Unübersichtlichkeit der DJ- und Remix-Culture ein Wunsch nach bewährten Größen gewachsen ist, die klassen-, geschlechter-, rassen-, vor allem jedoch genreübergreifend Sinn machen sollen. Insofern kommen die Old-School-Heroen genau richtig, um nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner zu repräsentieren, sondern den größten gemeinsamen Teiler auf dem weiten Feld der Differenzen zu liefern: endlich einmal wieder mehrheitsfähig sein.

Trotzdem ist da ein Rest an Faszination, der sich den Deutungsmustern und popstrategischen Diskursen entzieht. Wieso bekommt George Michael gerade jetzt diese ungeheure mediale Aufmerksamkeit, obwohl „Patience“ eher etwas fußlahm klingt? Warum kann Janet Jackson mit ihrem blanken Busen einen solchen Skandal auslösen, dass Britney Spears nach dem hysterischen Rummel um „Nipplegate“ für ihr nächstes Video „Everytime“ zum Selbstmord in die Badewanne steigen muss, damit die Einschaltquote nicht sinkt? Und was macht Prince, dessen kürzlich erschienene „Musicology“-CD auch nicht gerade den Funk neu erfunden hat, so anziehend, so sympathisch?

Vielleicht hängt es mit der Ökonomie der Aufmerksamkeit zusammen, die in einer durch und durch formatierten Mediengesellschaft zu einem kostbaren Gut geworden ist. Gerade weil so viel Wirbel um Popstars gemacht wird, hat sich die Aufmerksamkeit verknappt – es sind schlichtweg weniger Ressourcen verfügbar, weil die Nachfrage ins Unermessliche gestiegen ist. Jeden Tag wollen Abermillionen neugierige Konsumenten mit News versorgt sein, müssen Zeitschriften überall auf der Welt Meldung machen über das, was dem harten Kern der Prominenz gerade widerfahren ist. Im unentwegten Run auf Beckham, Küblböck oder Britney bleibt kaum Platz für andere Gesichter, dadurch entsteht nach kurzer Zeit bereits ein Nachrichtendefizit: Schließlich kann ein Beckham nur begrenzt Affären haben; und auch Teenage-Exzesse sind irgendwann nicht mehr abendfüllend, egal ob sie in Las Vegas, Bayern oder im Dschungel stattfinden. Dann fehlt den hinter allem Glamour-Marketing trotzdem etwas fahlen Celebrities die Geschichte.

Wenn nun aber die Gegenwart nicht mehr genügend Gesprächsstoff produziert, muss man auf die Vergangenheit zurückgreifen. Als vor ein paar Wochen George Michael anlässlich seiner Promotour für „Patience“ von Magazin zu Magazin weitergereicht wurde, kam kein Interview ohne Fragen nach früheren Zeiten heraus. Und Michael konterte mit einer Fülle an biografischen Details: Ja, sein Freund Anselmo ist 1993 an Aids gestorben, deshalb der ihm gewidmete Song auf dem neuen Album. Auch für „My Mother had a Brother“ hatte der Sänger eine sehr persönliche Story mit tragischem Ausgang parat, schließlich handelt der Song von seinem homosexuellen Onkel, der sich ausgerechnet am Tag von Michaels Geburt umbrachte, weil er sich in der schwulenfeindlichen Gesellschaft Anfang der Sixties vor dem Outing fürchtete.

Merkwürdig an der Vielzahl intimer Bekenntnisse war jedoch, dass kaum über das Leben geredet wurde, das Michael heute führt. Obwohl er sich letztes Jahr mit dem Anti-Blair-Song „Shoot the Dog“ als Kriegsgegner weit aus dem Fenster gehängt hatte, war seine Haltung zum Fortgang des Irakkriegs anscheinend keine Erwähnung wert. Nicht einmal nach seiner Meinung zum konservativen Rollback in Sachen gleichgeschlechtlicher Ehe wurde der offen homosexuelle Popstar befragt – oder er hat darauf erst gar nicht geantwortet. Das ist allerdings höchst seltsam, zumal Michael erst vor zwei Wochen in der britschen Presse rauf und runter zitiert wurde, weil er gerne seine Zunge in den Mund von Justin Timberlake stecken würde.

Zu diesem Zeitpunkt war sein Comeback-Album bereits auf Platz eins in den Charts, sodass die Äußerung den wiedererlangten Status als Popstar noch weiter zementierte. Tatsächlich zeigt sich im Spiel mit den Medien, dass Michael souverän über die Logik der Erregung verfügt: Ein Jahr zuvor wäre eine entsprechende Anzüglichkeit reines Kassengift gewesen, zu sehr war sein Stern trotz der lauten Kritik an der Irakpolitik im Sinken begriffen; so aber nutzt er den verkaufstechnisch günstigen Augenblick, um die Aufmerksamkeit noch weiter zu steigern. Zeitungen werden seine Avancen gegenüber dem 20 Jahre jüngeren Teenidol Timberlake auf jeden Fall drucken, schon weil sie die Möglichkeit einer Liaison versprechen, die als Klatsch für einen Tag quer durch sämtliche Zielgruppen funktioniert. Man sorgt für Aufsehen, das sich ökonomisch lohnt. Für die Fans von George Michael ist die Meldung wiederum eine Bestätigung, dass der Star weiterhin nicht bloß ihre, sondern überhaupt die volle Aufmerksamkeit aller Welt genießt. So schließt sich ein Kreis der Aktualität, der Michael medial umkrönt, als wären nicht acht lange Jahre seit dem letzten Album vergangen.

Bei Janet Jackson ist die Einschaltquote spätestens nach dem entblößten Busen vor zwei Monaten ungeheuer gestiegen. Perfektes Timing auch hier: Nach dem Eklat folgte eine öffentliche Buße, bei der sie sich in einem zugeknöpften blauen Kostüm vor der amerikanischen Nation entschuldigte. Zugleich wurde ein Bild von Jackson bei ihrem Missgeschick als 30 Meter langes und 1,8 Meter hohes Werbebanner in deutschen Großstädten an „20 prominent gelegenen Bauzäunen“ aufgehängt, wie es im Newsletter der verantwortlichen TownTalker Media AG heißt. In einer Parallelaktion zog sich Jackson für einen Sketch bei „Saturday Night Live“ noch mal das Oberteil aus, um die Prüderie der Bush-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice zu parodieren.

Der Plattenumsatz hält sich dabei zwar überschaubar in Millionengrenzen, aber als Image-Kampagne ist der Handstreich aufgegangen: Plötzlich wird Jackson mindestens so aufmerksam wahrgenommen wie sonst nur ihr Bruder Michael. Es ist ein später Akt der Emanzipation, der ihr selbst in der HipHop-Community enorme Credibility eingebracht hat. Anders als Jennifer Lopez ist die kleine Schwester aus dem Jackson-Clan zu einer fast schon authentischen „Janet from the block“ geworden. Das sorgt für Angebote als Gastgeberin bei den „Buckwild“-Sendungen des Playboy-eigenen TV-Senders, wo sonst gestandene Rapper wie Snoop Doggy Dogg oder Busta Rhymes durch die „Pornhop“-Schiene ungeschnittener X-Rated-Musikvideos führen –true hardcore eben. Umgekehrt hat Jackson mit ihrem Körpereinsatz allerlei christliche Fundamentalisten aus der Reserve gelockt, so wie etwa Robert Peters, der als Chef von „Morality in Media“ zum Boykott der Sängerin aufgerufen hat. Seither wird in den USA einmal mehr um Zensur gestritten, sodass sich gestandene Rrriot-Girrrl-Ikonen wie Courtney Love für Jackson und ihr Recht auf Freizügigkeit engagieren.

Während George Michael den Diskurs um Sexualität und Identitätspolitik als Elderstatesman mild und müde, halb sentimental, halb kokett aus der Ferne eines gelebten Lebens betrachtet, ist Janet Jackson ein Coup gelungen, wie man ihn bislang nur von Madonna kannte. Ihre Taktik, sich in Posen einer Femme fatale zu inszenieren, lag auf Augenhöhe mit der coolen Symbolik der frühen Neunzigerjahre. Als Dance-Musik zum neuen Schlachtfeld der Zeichen wurde, gab sie die Führungsoffizierin und fütterte die Bildwelt der Videoclip-Industrie mit Bildern, die ihr Modefotografen wie Stephen Meisel oder Jean Baptiste Mondino passgenau bis aufs Leibchen zugeschnitten hatten. „Justify my love“, das war ein Anspruch, den sie auch für die Medienmaschine geltend machte: eine perfekte Verkörperung des Subversionsgedankens, wonach das totale Zeigen nicht zu mehr Voyeurismus, sondern letztlich zum Verschwinden des Subjekts hinter einem Wall of Images führt. Darin war Madonna über Jahre unangreifbar, die absolute Herrscherin über das Blickregime.

Janet Jackson ist es dagegen gelungen, die mittlerweile warenförmigen Körperfantasien von damals in Zeiten einer Pornografisierung des Pop noch einmal zum Schillern zu bringen. Wenn sie auf ihrer neuen CD „Damita Jo“ unentwegt von Aura und Orgasmen singt, wenn sie in einem Song wie „Moist“ deutlich wird oder auf der kommenden Single „Just a little while“ mit gespielter Unschuld Zeilen haucht wie „Baby, I Know we did it all night long / and I don’t wanna burn you out“, kann sie zwar bezaubernd wie eine Disney-Fee klingen, die aber doch immer nur das eine will. „Relax … it’s just sex“, singt sie kieksend zum Ausklang von „Sexhibition“. Vor so viel physischer Freude und überhaupt Selbstbewusstsein muss sich Britney Spears wohl wirklich fürchten. Es ist ein Comeback der nackten Tatsachen.