Transatlantische Verwirrung

So verfahren die Situation im Irak ist, so sehr behält der Kampf gegen den Terrorismus seine Bedeutung. Die US-Regierung muss darüber den Dialog mit den Europäern suchen

Den Franzosen fehlt der Sinn für die konkrete Situationim IrakIn Afghanistan verläuft die bedeutendere Front gegen den Islamismus

Die moralische Verwerflichkeit des Folterskandals von Abu Ghraib versteht sich von selbst. Seine politische und geostrategische Schande besteht darin, dass sie das westliche Bündnis im entscheidenden Moment eines langfristig zu führenden Kampfes gegen das Aufkommen des Islamismus schwächt. Doch anstatt sich den wirklich vordringlichen Fragen zu stellen, scheinen die Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks versessen darauf, nationale Belange zu vertreten, obwohl sie auf Kosten eines weitreichenderen Interesses gehen – des Interesses an dem, was aus Mangel an geeigneterer Umschreibung als „der Westen und seine Werte“ bezeichnet werden muss.

Was immer an der Irak-Invasion richtig oder falsch war – und aus jetziger Sicht scheint es extrem problematisch zu sein, für seine Richtigkeit zu plädieren –, so sollte es dennoch für Europa von elementarer Bedeutung sein, sicherzustellen, dass die von den USA geführte Koalition nicht scheitert. Eine jener widersprüchlichen und widernatürlichen Folgen des Irakkriegs besteht darin, dass die USA in dem Irrtum, Saddam Hussein und die al-Qaida seien verbündet gewesen, das Zustandekommen genau jener Verbindung begünstigen, die sie so sehr gefürchtet hatten. Ein Irak, der ins Chaos stürzt, wäre genau jene islamistische Brutstätte, die es unter Saddam nicht gewesen ist (obgleich, und damit sollten wir uns auseinander setzen: Wenn Saddam mit seinen Bauteilen allein geblieben wäre, hätte er Massenvernichtungswaffen hergestellt, die sogar in radikal islamistische Hände hätten fallen können).

Tatsache ist jedenfalls, dass die Eliminierung Husseins und die Schwäche der gemäßigten Iraker den Extremisten den Boden geebnet hat: den Anhängern des radikalen Schiitenführers Moktada al-Sadr und denen von Abu Mussab al-Sarkawi, dem Al-Qaida-Funktionär, der persönlich für die Enthauptung des amerikanischen Zivilisten und Elektrikers Nicholas Berg verantwortlich ist. Der unheimliche Sarkawi ist die lebende Verkörperung dessen, was im Schatten der Iraker herumschleicht, wenn die amerikanischen Bemühungen dort scheitern. Wie sein Patron Ussama Bin Laden will er die Europäer glauben machen, dass sie umso sicherer seien, je weiter entfernt von den Amerikanern sie sich halten. Es ist eine grausame Politik des „Teile und herrsche“ – und Europa sollte das Angebot dieser vermeintlichen Behaglichkeit richtig einschätzen.

Außer im Irak besteht auch in den benachbarten islamischen Staaten die Tendenz, auseinander zu bröckeln. Sobald dort die Lage politisch instabil wird, übernehmen diejenigen die Macht, die ideologisch strukturiert, engagiert und zielstrebig sind – eine islamistisch-leninistische Minderheit.

Pakistan, das längst über Atomwaffen verfügt, und Saudi-Arabien sind von Natur aus instabil. Ägypten ist fortwährend von islamistischen Unruhen bedroht. Der Iran, darum bemüht, Nuklearmacht zu werden, ist bereits ein islamischer Staat. Es mag in Europa die perverse Genugtuung bestehen, dass die Invasion Iraks all dies noch verschlechtert hat. Darüber kann man sich in der Tat streiten. Doch was soll’s? Die entscheidende Frage lautet jetzt: Was tut das atlantische Bündnis, der demokratische, säkulare, friedliebende Westen nun gegen all diese Gefahren?

Derzeit bestehen die Aktivitäten der mächtigsten Länder Europas darin, moralistisch Haltung zu wahren und kluge Ratschläge von der Außenlinie anzubieten: wie die Ausführungen des neuen französischen Außenministers Michel Barnier, in denen er ebenso wie Bundeskanzler Schröder für Deutschland bekannt gab, dass Frankreich keine Truppen in den Irak schicken würde, nicht einmal, wenn die Resolution des Sicherheitsrats die Unabhängigkeit an die irakische Regierung übergibt. So wie die Dinge stehen: Wer könnte dies den Franzosen übel nehmen, die wiederholt davor gewarnt hatten, dass der Irakkrieg keine gute Idee war und sie sich von dem fern halten sollten, was Barnier als „schwarzes Loch, das den Mittleren Osten verschluckt und darüber hinaus die ganze Welt“ beschrieb?

Andererseits hat Frankreich, das seine – und das sollten wir nicht vergessen – demokratische Existenz den USA verdankt, nunmehr seit Monaten allgemeine Ratschläge gegeben und gedroht, die USA im Sicherheitsrat zu sabotieren, sollten sie seine Hinweise nicht befolgen. Und der Rat, den Frankreichs Anführer in den vergangenen Tagen nochmals wiederholten, impliziert auch die vage Vorstellung, unter der UN-Schirmherrschaft schneller mehr Kompetenzen an die Iraker zu übergeben. Das ist rein zufällig auch das Ziel der USA.

Was dem französischen Zuruf fehlt und an einen Fan bei einem Fußballspiel erinnert, der dem Spieler am Ball Tipps gibt, ist jeglicher Sinn für die konkrete Situation. An welche Iraker könnte die Souveränität übergeben werden, und wer garantiert danach die Sicherheit dieser neuen unabhängigen irakischen Regierung? Es scheint, als glaube Frankreich, dass eine Gruppe von Männern in Anzügen um einen Tisch in New York sitzt und Resolutionen herumreicht, die mit der Realität nichts zu tun hat: den Hardliner-Baathisten, den machthungrigen radikalen Schiiten und Abu Mussab al-Sarkawis vermummten Mördern. Deren Bekämpfung kann in absehbarer Zukunft nur die US-geführte Streitmacht übernehmen, eben diese Macht, der sich Frankreich und Deutschland nicht anschließen wollen.

Tatsächlich hat sich Deutschland besser verhalten. Im Gegensatz zu Barnier war der deutsche Außenminister Joschka Fischer bei seinem Besuch in Washington bestes Beispiel für die moralische Unterstützung der Vereinigten Staaten. Und Deutschland hat, wie gut informierte Amerikaner wissen, Truppen an vorderster Front in Afghanistan stehen – mit dem Risiko, dass Soldaten dort ihr Leben lassen. In Afghanistan verläuft unbestritten die bedeutendere Front gegen den Terror, gegen den Islamismus. Doch auch Deutschland hält sich in sicherem Abstand zu dem Moloch im Irak. Und das neue SPD-Motto von der „Friedensmacht“ ist der Widerhall der pazifistischen Rhetorik aus den Wahlen in Deutschland 2002.

Wieder einmal ist das Argument, die Unbeholfenheit, ja sogar die Doppelzüngigkeit Amerikas mache den Kern der transatlantischen Verwirrung aus, nicht von der Hand zu weisen. Die Unbelehrbarkeit der USA in ihrer Argumentation für den Krieg und nun der Schock über Abu Ghraib lassen Amerikas Glaubhaftigkeit im Irak null und nichtig werden. Und die Hauptdarsteller der Bush-Regierung tun rein gar nichts, ihre europäischen Gegenüber zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zu bewegen.

Im Gegenteil, diese unvermeidbare Entwicklung im transatlantischen Diskurs scheint sich auf schlichtes Sprücheklopfen zu reduzieren – und das in einer Zeit, in der Schwäche und Uneinigkeit innerhalb der Allianz genau das darstellt, was die Strategen der al-Qaida sich inständig wünschen. RICHARD BERNSTEIN

Übersetzung: Ute Eggert