Nicht versöhnt

Cannes Cannes (5): Heilige Mädchen und andere Familienmonster. Die Filme setzten aufs Interieur

Draußen, im wirklichen Leben der Kleinstadt Cannes, gehen Michael Moore und Jose Bové mit den Intermittents demonstrieren, drinnen im Kinosaal behandeln viele Filme das Sujet Familie.

Zum Beispiel Agnèzs Jaouis Wettbewerbsbeitrag „Comme une image“ („Wie ein Bild“). Etienne Cassard, ein Schriftsteller und Verleger (Jean-Pierre Bacri spielt ihn wunderbar versteinert), hat eine etwa 20 Jahre alte Tochter, Lolita, der er wenig Anerkennung zollt. Sie fühlt sich dementsprechend ungeliebt und leidet so unübersehbar, dass es dem Vater die Stimmung verdirbt. Damit ist die erste Konfliktlinie gezogen, zahlreiche andere gesellen sich hinzu. Es macht große Freude zu beobachten, wie leichtfüßig sich die Regisseurin durch das Netz ihrer Figuren bewegt, wie elegant sie mit einem Dialogtupfer hier und einem Blickwechsel da, eine Bindung oder eine Figur charakterisiert, wie gut sie Pointen setzt, ohne dabei zu vergessen, dass der, der die größte Lakonie an den Tag legt, das größte Arschloch ist. „Comme une image“ endet seinem komödiantischen Grundton folgend zwar hoffnungsfroh, aber nicht versöhnlerisch – wie in stillem Einverständnis mit der Erkenntnis, dass das Zwischenmenschliche die Dysfunktion unvermeidlich in sich trägt.

In „La niña santa“ („Das heilige Mädchen“), dem beeindruckenden Wettbewerbsbeitrag der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel, sieht es etwas anders aus. Wie Jaoui arbeitet Martel mit einem überschaubaren Ensemble, doch anders als die französische Kollegin wählt sie einen relativ geschlossenen Schauplatz: ein Hotel in der nordargentinischen Provinz Salta. Martels Figuren – die Teenagerin Amalia, deren Mutter Helena, der zu einem Medizinerkongress angereiste Dr. Jano und die anderen – sind wie schläfrige Raubkatzen: Weil sie so harmlos ausschauen, möchte man sie streicheln, doch in Wirklichkeit lungern sie auf Beute. Oft liegen sie auf Betten, obwohl die Nacht noch weit ist, die Mutter neben der Tochter, der Bruder neben der Schwester. Oder sie ruhen am Pool, in einem entrückten Zustand zwischen Schlaf und Wachsein, und in dieser Reglosigkeit kreisen Blicke und Begierden. Wie schon in ihrem herausragenden Spielfilmdebüt „La Ciénaga“ geht es der Regisseurin nicht um eine Erörterung dessen, was richtig und was falsch wäre, sondern um die Gesten und kleinen Geschichten, die dort beginnen, wo das Regiment von Gut und Böse aufhört.

Durch „La niña santa“ mäandern Strömungen, die sich um nichts als Haare kümmern, darum zum Beispiel, dass das Shampoo des Hotels die Haare austrocknet. Einmal heftet sich die Kamera an den Haaransatz hinter Amalias Ohr – an jene Stelle des Körpers, von der es heißt, dass ihr Geruch über Anziehung und Abstoßung entscheidet. Eine andere Unterströmung kreist um das Gehör. Als Helena sich einem Hörtest unterzieht, macht sie kleine Fehler. Statt „madres“ („Mütter“) sagt sie „males“ („Übel“). So subtil kann Kino sein.

Auch in „La niña santa“ also ist die Dysfunktion unverrückbar Teil der condition humaine. Anders verhält es sich bei zwei Filmemachern, die aus ganz unterschiedlichen Kontexten kommen: bei dem koreanischen Regisseur Park Chan-Wook und seinem Wettbewerbsfilm „Old Boy“ und bei der jungen italienischen Regisseurin Asia Argento und „The heart is deceitful … above all things“, ihrem Beitrag zur Quinzaine des réalisateurs. Beide Filme treiben das Böse – Vernachlässigung, Missbrauch, Inzest – so tempo- und bildreich vor sich her, dass es schließlich im Reich entfesselter Fantasie landet. In „Old Boy“ führt dieser Weg von der Thrilleroberfläche über viele Plotserpentinen abwärts in die Tiefe der griechischen Tragödie.

Argentos Film täuscht zunächst ein realistisches White-Trash-Drama vor, gebärdet sich aber bald so, als hätte er dieselben Drogen genommen wie seine Protagonistin Sarah. Die wird von der Regisseurin selbst als großartige Schlampe gegeben. Ihrem vielleicht acht Jahre alten Filmsohn Jeremiah wiederum spielt „The heart is deceitful … above all things“ so übel mit, dass ihm als einzige Zuflucht die Sex Pistols bleiben. In einem der besten Augenblicke des Films singt der Junge „I am the Antichrist“, und man glaubt es ihm aufs Wort.

CRISTINA NORD