Tarantinos Geständnis

Der Präsident der Jury der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes holt sich seine Lieblingsfilme aus dem Internet

Kennt noch jemand die Netiquette, das ungeschriebene Gesetzbuch der Newsgroups? Da stand zum Beispiel, dass man statt „ficken“ nur „f*“ schreiben und sich auch sonst nicht benehmen soll wie in einem Film von Quentin Tarantino.

Tarantino war in diesem Jahr Präsident der Jury des Filmfestivals von Cannes und musste an einer enorm wichtigen Diskussion mit nationalen und internationalen Kinolobbyisten und Studiobossen teilnehmen. Wenn sich solche Leute treffen, haben sie nur ein Thema: die DVD-Kopien ihrer Waren im Internet. Jack Valenti, der Chef des amerikanischen Kinoverbandes, hält sie für eine „Bedrohung für jedes Land, jede Kultur und jeden Glauben“.

In dieser Diskussion hat Tarantino gesagt, dass er sich ganz gerne mal Kopien von den Filmen „besorgt“, die er mag. Die Bosse waren sauer, und einer von ihnen hat ihn aufgefordert, doch bitte mal „in Ruhe über seine Äußerung nachzudenken“.

Bis dahin lief alles sehr gut für Quentin Tarantino in Cannes. Aber nun das: „In Ruhe drüber nachdenken.“ In den den alten Newsgroups hätte wahrscheinlich „RTFM“ gestanden: „Read The F* Manual.“ Soll Tarantino nun wirklich das komplette amerikanische Urheberrecht und sämtliche Verträge der „World Intellectual Property Organisation“ auswendig lernen? Schließlich macht er aus dem Massenschrott, den die Filmindustrie auf DVDs verhökert, seine Meisterwerke. „Denken Sie mal in Ruhe über Ihre Äußerungen nach“, mehr kommt da nicht. Sir! Yes, Sir! Ganz wichtig beim Nachdenken ist es, den analogen Briefkasten draußen am Hauseingang nicht zu vergessen. Dort kann Post vom Gericht liegen. Letzte Woche hat eine US-Richterin einen Mann zu einem Schadensersatz von 3.750 Dollar verurteilt, weil er auf die ihm schriftlich zugesandte Klage des Dachverbandes der amerikanischen Tonträgerindustrie nicht reagiert hat.

Auch darüber haben die Studiobosse in Cannes nichts gesagt. Sie sollten mal darüber nachdenken. Ihre Kollegen von der US-Tonträgerindustrie haben seit über einem Jahr mehr als 2.000 Klagen gegen Leute laufen, die Musikstücke im Internet tauschen. Ihre Strafen liegen weit unter den Vorstellungen der Plattenfirmen, in einem ordentlichen Prozess wären sie vermutlich freigesprochen worden. Gar nicht auszudenken, welchen Film Tarantino mit diesem Stoff drehen würde. NIKLAUS HABLÜTZEL