Wie die Kosaken auf die Bäume kamen

Kaum war sie aus dem Paradies vertrieben, arbeitete die Familie meiner Frau an einer neuen Oase – im Kaukasus

Die taz-Serie „Die Agronauten“ fragt: Sind auch Sie bereit fürs Land? In Folge 6 berichtet Wladimir Kaminer, wie Flüchtlinge auf einen grünen Zweig kommen.

1992 eskalierte in Tschetschenien der nationale Konflikt, der frisch gewählte Präsident Dudajew rief zu einem tschetschenischem Staat auf, die Überfälle auf die russische Bevölkerung häuften sich. In Frühling waren es noch Einzelfälle, man erzählte einander gruselige Geschichten wie der Freund eines Freundes, der am anderem Ende der Stadt lebte, samt seinem Haus von den Tschetschenen angezündet wurde und ums Leben kam, weil er nicht ausziehen wollte. Im Sommer rieten sogar die gemäßigten Tschetschenen, alten Freunden und ihren russischen Nachbarn, so schnell wie möglich abzuhauen. Der Druck war groß, die Zeit knapp. Nachts wurde geschossen, tagsüber verhandelt.

Ende Juli verließ die Familie meiner Schwiegermutter ihre Heimatstadt Grosni mit einem gemieteten Lastwagen; sechs Frauen im Laderaum, ein Mann am Steuer. Sie fuhren nach Russland, in den Kaukasus. Dort hatten sich schon früher Flüchtlinge aus Tschetschenien angesiedelt, die meisten waren Kosaken, um unter der russischen Flagge ein neues Leben in der Steppe zu beginnen.

Die einheimischen Bauern beobachteten die Neuankömmlinge mit Misstrauen. Alle Welt wusste doch, dass die Kosaken keine Ahnung von Landwirtschaft haben. Unter sich half man aber einander. Noch bevor sie anfingen, Häuser zu bauen, pflanzten die geflüchteten Kosaken Bäume. Ihren Garten in Grosni mit hundertjährigen Bäumen vermissten sie besonders. Also pflanzten sie erst einmal einen Nussbaum, eine Fichte, einen Kirschbaum und einen Aprikosenbaum. Zum Glück war 1992 kein besonders heißer Sommer, und es regnete alle zwei Tage.

Die Familie legte ein Beet mit Dill, Petersilie und Lauch an und hatte davon dann alle zwei Wochen eine kleine Ernte. Bis Mitte Oktober verkauften sie die Bündel am nahe liegenden Bahnhof für 50 Rubel das Stück. Für das Geld kauften sie warme Semmeln mit Kartoffeln zu je 250 Rubel und billige Fischkonserven: „Strömling in Tomatensauce“. Die warmen Semmeln am Bahnhof schmeckten gut, das neue Leben schien langsam zu funktionieren. Sie waren fast glücklich. Von dem Rest des Geldes kauften die Kosaken sich noch ein paar Pflaumenstecklinge auf dem Markt. Die Bauern aus dem Dorf lachten über diese ihre Baumleidenschaft. Von solchen Projekten hielten sie nichts. Sie selbst hielten Schweine, hunderte von Hühnern und oft auch noch ein paar Kühe.

Diesen Aufwand konnten sich die Kosaken nicht leisten. Also konzentrierten sich die Kosaken auf Gemüse. Der kaukasische Lehmboden erwies sich als nicht sonderlich fruchtbar. Die Hitze riss den trockenen Boden auf und das Wasser verschwand in den Erdritzen. Der Wind brachte Unkraut, von früh bis spät hockten die Kosaken auf ihren Beeten in der berühmten Unkrautbekämpfungsposition – Kopf nach unten, Hintern hoch. Kartoffeln, Erdbeeren, Tomaten, Paprika, Gurken – alles, was die Kartoffelkäfer, Vögel und Schnecken nicht geschafft hatte, ernteten die Kosaken. Parallel dazu wurde das Haus gebaut, alle hatten bereits vom Bauwagenleben die Nase voll. An Neujahr 1993 war das Haus fertig: Die Familie zog um, der Hund Big Bill und zwei Katzen ohne Namen, die aus dem Dorf kamen, zogen mit.

Im darauf folgenden Frühling nahm die Familie bei einem Geflügelzüchter im Dorf einen Kredit auf: zwei Gänse und zwei Dutzend Hühner auf Raten. Sie rentierten sich aber alle nicht. Die Gänse liefen ständig weg, die eine wurde dann von Big Bill, die andere von einem kaukasischen Geier gefressen. Mit dem restlichen Geflügel war es umgekehrt: Keiner wollte die Hühner umbringen. Die Kinder fingen sofort an zu weinen, wenn jemand aus der Familie mit einem Messer auf den Hof ging. Also starben die Hühner langsam an Altersschwäche. Die Bauern lachten sich halbtot. „Kein Wunder, dass die Tschetschenen euch verjagt haben!“, lästerten die Dorfbewohner.

Nach einigen Jahren wurden sie aber neidisch. Während sie mit ihren Schweinen und Hühnern immer noch in der Steppe lebten, vom Wind und der Sonne austrockneten, genossen die Kosaken das Leben in einer Oase. Der lehmige kaukasische Boden war zwar schlecht für Kartoffeln, aber sehr gut für Bäume aller Art. Sie wuchsen wie verrückt. Aus einem Nussbaum wurden 54 Nussbäume. Die Aprikosen-, Kirsch- und Pflaumenbäume bildeten zusammen einen Garten Eden in der Steppe. Jetzt sind sie schon zehn Jahre alt.

Die Kosaken trinken selbst gemachten Pflaumenwein und backen Nusstorten. Inzwischen gedeihen auch die Weinreben im Garten. Nun hat die Familie eine neue Geschäftsidee – ein Fischbecken im Garten, mit ein paar schönen Birken und Fichten am Ufer, einem kleinen Wasserfall und Karpfen darin, die man später auf dem Markt verkaufen wird. Die Leute im Dorf glauben nicht an die Geschäftstüchtigkeit der neuen Nachbarn. Das werden doch bestimmt Goldfische sein, lästern sie. WLADIMIR KAMINER