jazzkolumne
: Musik als Synthese aller Lebensformen: Das Nachleben des Art Ensemble of Chicago

Es sind immer die Streitbaren, die den Spirits auf der Spur sind. Ohne die europäischen Jazz-Festivals, Plattenfirmen, Clubs müsste die Geschichte der Great Black Music neu geschrieben werden. Das Art Ensemble of Chicago drängte vor 35 Jahren auf den Jazzmarkt Europa mit einer Musik, die bis heute in Amerika als unverkäuflich gilt. Hier haben sich die Netzwerker aus der Chicagoer und New Yorker Jazz-Avantgarde eine Basis geschaffen, die ihnen regelmäßige Beschäftigung und Anerkennung garantiert. Dort präsent sein, wo die Hörer leben, lautet die schlichte, aber wirksame Devise.

Noch im Jahr seiner Gründung war das Art Ensemble nach Paris umgezogen, in das damalige europäische Zentrum afroamerikanischer Jazzer, wo es binnen achtzehn Monaten zwölf Platten aufnahm. Als es nach Amerika zurückkehrte, stand dann die endgültige Struktur und Besetzung des Ensembles fest, das nicht mehr nach dem traditionellen Chefprinzip funktionierte, wo der Bandleader die Aufgaben diktiert: Der Perkussionist Famoudou Don Moye übernahm das Ressort für Administratives und Arbeitsbeschaffung, der Trompeter Lester Bowie kümmerte sich um Verhandlungen und Verträge, Saxofonist Joseph Jarman übernahm Public Relations, Ideengestaltung und Verbalisierung, Saxofonist Roscoe Mitchell die Komposition und das Arrangement, und der Bassist Malachi Favors Moghostut wurde Koordinator für die Langzeitentwicklung der Gruppe.

Ein Konzert des Art Ensemble of Chicago klingt auch heute noch wie Verirrtsein im Wald: Man mobilisiere alle Sinne und atme tief durch. Buntes Make-up, afrikanische Gewänder, Lester Bowies Weißkittel, Töpfe und Pfannen, Holz und Metall, selbst gebaute Tröten, haufenweise little instruments und Klänge aus der Stille, die zum Sturm werden. Auch wenn der Tod zweier Ensemblegründer, Lester Bowie (1999) und Malachi Favors Moghostut (Anfang dieses Jahres) die Zukunft des bekanntesten Black-Music-Kollektivs der Musikgeschichte in Frage stellt.

Beim New Yorker Indie-Label Pi Recordings (Vertrieb: Sunny Moon) ist gerade die Art-Ensemble-CD „The Meeting“ erschienen, eine weitere ist für den Herbst geplant. Auf „The Meeting“ steht die Malachi-Favors-Komposition „It’s the Sign of the Times“, einer Suite, die jedem Ensemblemitglied auch breiten solistischen Raum einräumt, im Zentrum. Das Motto des Ensembles „Great Black Music – From the Ancient to the Future“ ist gelegentlich als Ausdruck eines schwarzen Gegenrassismus und Reklamierung eines schwarzen Besitzanspruchs auf den Jazz missverstanden worden. Der 1927 geborene Favors formulierte es so: „Lester Bowie hat damals den Begriff eingebracht. Damit meinten wir unsere gesamte Musik. Rhythm & Blues, Rock, Negro-Spirituals, Gospel, Jazz, Dixie – das alles ist Great Black Music.“ Musik als Synthese aller Musikformen, Kunst als Lebenshaltung, Kreativität und Selbstverwirklichung lauten die kollektiven Formeln – „unsere Musik kann das Leben des Hörers zum Guten wenden“ ist der Anspruch. Dem Vorwurf des schwarzen New Yorker Kritikers Stanley Crouch, das Art Ensemble habe lediglich Effekthascherei betrieben, sich kostümiert, die Gesichter angemalt, von Afrika und Rebellion geschwätzt, aber eigentlich nie Jazz spielen können, konterte Favors gelassen: „Es gibt in jeder Kultur Leute, die verwirrt, bewusstlos oder einfach nur unwissend sind. Auch ein Akademiker mit Doktortitel kann blind, taub und dumm sein.“

Favors war der lächelnde Zweite von rechts mit V-Ausschnitt und Brille auf der Coverpose der Bright-Moments-CD „The Return of the Lost Tribe“ (Delmark/Sunny Moon). Das ist eine Alt-All-Star-Reunion von Musikern der Chicago-Tradition um Joseph Jarman und Kahil El’Zabar, die ihren Bandnamen einem Rahsaan-Roland-Kirk-Song entlehnt haben. Randphänomen: Mit zunehmendem Alter sind der Improvisation physische Grenzen gesetzt, in Chicago spüren bereits die Fünfzigjährigen, dass sie bald kürzer treten müssen. Bright Moments meint Augenblicke des Glücks, Hoffnungsschimmer in düsteren Zeiten, Bright Moments war die Worldcombo der Great Black Music. Doch jetzt ist der Bassist Malachi Favors Moghostut tot.

Crouch bleibt bei seiner Behauptung, Famoudou Don Moye sei der Einzige im Art Ensemble of Chicago, der Jazz spielen könne. Don Moye spielt Schlagzeug und Perkussion. Kämpferisch, wenn es sein muss. Von ihm stammt die Bemerkung, das Art Ensemble habe musikalisch das ausgedrückt, was die Black Panthers politisch symbolisiert haben. In seinen Liner Notes, „Fanfare for a Warrior“, zur Art-Ensemble-Trio-CD „Tribute to Lester“, die im vergangenen Jahr bei ECM erschien, erinnerte er auch daran, wie Bowie als junger Trompeter in St. Louis immer bei geöffnetem Fenster übte, in der Hoffnung, Louis Armstrong komme vorbei und könne ihn hören. Für „The Meeting“ ist nun auch Joseph Jarman wieder dabei, der für einige Jahre Abschied vom Ensemble genommen hatte, der Religion und eigener Projekte wegen. Und schließlich ist unter den Überlebenden des Art Ensembles noch Roscoe Mitchell, der gänzlich gegen das Spiel-was-du-fühlst-Mann!-Getue selbst ernannter Free Player hält. Improvisation ist für Mitchell parallele Komposition.

Roscoe Mitchell war vor gut vierzig Jahren in Berlin als Soldat. Dort traf er den damals gänzlich unbekannten Saxofonisten Albert Ayler. Was man über Ayler wissen möchte, steht in Peter Niklas Wilsons Buch „Spirits Rejoice!“ (Wolke Verlag). Mitchell erinnert sich, dass er zwar schon mal eine Platte von Ornette Coleman gehört hatte, als er aber Ayler live spielen sah, war es die Erleuchtung. Mitchell gründete dann das Art Ensemble. Und Crouch sagt, Ayler habe lediglich einige nette Kindermelodien gespielt, mit Jazz habe das aber nichts zu tun gehabt.

CHRISTIAN BROECKING