Unamerikanische Umtriebe

Was macht Amerika aus? Und gehören Latinos, „Multikulturalisten“ und Liberale überhaupt dazu? In seinem neuen Manifest, ein Buch zum aktuellen Kulturkampf in den USA, verdächtigt der Politologe Samuel Huntington sie unamerikanischer Umtriebe

Ihr Kulturkampf entzündet sich an den Themen Abtreibung, Homo-Ehe, Religion

VON SEBASTIAN MOLL

Man kann sich kaum daran erinnern. Aber als im April 2003 US-Truppen in Nadschaf einmarschierten, wurden sie tatsächlich bejubelt. Die Gründe für den Jubel dürften der rechtskonservativen US-Regierung allerdings nur zum Teil geschmeckt haben. Befragt, was er sich von den Befreiern verspreche, antwortete ein Iraker: „Demokratie. Whisky. Und Sexy.“ Nur einer drei erhofften Importartikel war von der Bush-Regierung sanktioniert: Ironischerweise der einzige, der bislang nicht angekommen ist.

Pornografie und Betäubungsmittel kursieren zuhauf im besetzten Irak, bemerkte kürzlich Charles Colson – der sich, nachdem er eine mehrjährige Haftstrafe für seine Verstrickung in die Watergate-Affäre verbüßte, als evangelikaler Prediger neu erfand. Die Gefängniswärter von Abu Ghraib, so Colson, seien mit einer ständigen Diät von MTV-Videos und Pornos versorgt worden – kein Wunder also, dass sie auf dumme Gedanken kamen.

Wie praktisch: Die Verantwortung für die Gräuel in Abu Ghraib liegt dieser Logik zufolge nicht beim Oberkommandanten der Streitkräfte im Weißen Haus, sondern bei der verderbten amerikanischen Popkultur, die das Bild Amerikas in der Welt mit Dingen wie Whisky und Sexy befleckt. Auf diese Weise – so der New-York-Times-Kolumnist Frank Rich – schafft es die religiöse Rechte, die Front des tatsächlichen Krieges im Irak mit der Front im Kulturkampf zu verdrahten, der zu Hause tobt.

Das macht sich gut im Wahlkampf: So gesehen bekommt die tugendhafte US-Armee von den unmoralischen Linksliberalen den Dolch in den Rücken gestoßen. Von jenen Leuten also, die beispielsweise den obszönen Radiomoderator Howard Stern gegen die Angriffe der Rundfunkaufsichtsbehörde FCC mit Verweis auf die Redefreiheit in Schutz nehmen; jenen „Heiden“, die Colsons Kollege Jerry Falwell nur zwei Tage nach dem 11. September als eigentliche Schuldige für den Angriff auf das World Trade Center ausmachte.

Der Begriff Kulturkampf – „Culture Wars“ – ist seit einem guten Jahr in den USA in Umlauf, um die gegenwärtigen öffentlichen Diskussionen zu charakterisieren. George Bush, der sich als wiedergeborener Christ bezeichnet, in seiner Freizeit lieber Baseball schaut als Nachrichten und der mehrmals täglich betet, ist zugleich Leitfigur einer neu erstarkten konservativen Rechten wie Hassobjekt einer linksliberalen Gegenöffentlichkeit, die sich mit wachsendem Abstand zum 11. September immer deutlicher formiert.

Der Schlachtfelder in diesem Kampf gibt es viele: die Abtreibungsdebatte, die wieder entflammt ist, seitdem die Regierung versucht, legislativ das Verfassungsgerichtsurteil von 1973 zu unterwandern, das die Abtreibung in den USA legalisierte; die spannende Auseinandersetzung um die Homo-Ehe, deren Rechtsstatus seit dem Urteil dreier Richter in Massachussetts im vergangenen Jahr vage und unklar ist; das Schlachtfeld der institutionellen Religion, auf dem sich neuerlich die einst verfeindeten Katholiken und Evangelikalen im Kampf gegen die Häretiker verbrüdern; sowie das Schlachtfeld der Medien mit dem genanntem Streit um Howard Stern, mit den Provokationen von Janet Jackson und Courtney Love, deren Flashings das saubere Familienfernsehen sexualisiert haben, und last not least mit der Kontroverse um Mel Gibsons Sado-Maso-Film.

Seit vergangener Woche ist die Rechte für diesen Krieg sogar mit einem Manifest gerüstet. Der konservative Harvard-Politologe Samuel P. Huntington hat das 500-Seiten-Werk „Who We Are“ vorgelegt, in dem er sich mit den „Herausforderungen für die nationale Identität Amerikas“ beschäftigt, die er allerorten wittert. Der Kern der amerikanischen Identität, schreibt er, setze sich historisch aus den Komponenten Rasse, Ethnizität, Kultur und Ideologie zusammen. Rasse und Ethnizität seien im multikulturellen Amerika längst dahin, und Ideologie, das zeige der Blick um den postkommunistischen Globus, sei allerorten abgenutzt. Was bleibe, sei die amerikanische Kernkultur, die Huntington als einen Cluster aus „christlicher Religion, protestantischen Werten, Arbeitsethik, englischer Sprache, dem Glauben an Gerechtigkeit, Gleichheit, Individualismus, Privatbesitz sowie repräsentativer Demokratie“ festlegt. Wenn die Amerikaner sich nicht auf diese Werte besinnen, so Huntington, dann fliege ihnen die Nation um die Ohren, weil sie durch nichts mehr zusammengehalten wird.

Selbstverständlich teilen die liberalen Kritiker nicht Huntingtons Ängste vor kultureller Entropie: etwa seine Angst vor knapp zehn Millionen mexikanischen Einwanderern, die laut Huntington eine bedrohliche Parallelkultur bilden sollen. „Was ist denn das für eine fremde Kultur, die uns da bedroht?“, fragte etwa Louis Menand vom New Yorker schnippisch. „Die hispanisch-amerikanische Kultur ist schließlich und endlich in der spanischen Kultur verwurzelt, und das letzte Mal, als jemand nachgeschaut hat, war Spanien noch in Europa. Und was sind ihre bedrohlichen Werte? Sie setzen die Familie an erste Stelle, lassen in ihrem Leben Raum für andere Aktivitäten als den Broterwerb, sind religiös und der Gemeinschaft verpflichtet. Zieht die Zugbrücken hoch!“

Unamerikanisch, so findet Huntington, seien neben den Mexikanern, die sich nicht an der Leitkultur orientieren, aber auch die liberale Elite sowie die Globalisten, die sich keiner speziellen nationalen Kultur mehr verpflichtet sehen. Außerdem hat Huntington die „Multikulturalisten“ auf dem Korn, zu denen er nicht zuletzt den früheren Präsidenten Bill Clinton und seinen Vizepräsidenten Al Gore rechnet. Die Assoziation ist so entlarvend wie interessant – die neuen Konservativen wie Huntington sind wie der jetzige Präsident noch immer eine direkte Reaktion auf die Clinton-Ära, und geführt wird noch immer die Multikulturalismus-Debatte, die Mitte der Neunzigerjahre Hochkonjunktur hatte. Nur, dass Monokulturalisten wie Huntington damals keine Lobby hatten.

Ausgangspunkt der akademischen Debatte war seinerzeit die Frage, ob an den Universitäten neben den Klassikern humanistischer Bildung in einer Gesellschaft wie der amerikanischen nicht auch Werke von Schwarzen, Frauen und asiatischstämmigen Amerikanern gelehrt werden sollten. Im Kern ging es dabei um die gleiche Frage, die Huntington stellt: Was ist Amerika denn im Kern? Huntington behauptet nun, Multikulturalismus sei unamerikanisch. Die Debatte seinerzeit kreiste darum, wie man sich in einem Land einrichtet, dessen multikulturelle Verfasstheit nicht zu leugnen ist.

Die Konservativen arbeiten sich noch immer an den Folgen der Clinton-Ära ab

Der kanadische Philosoph Charles Taylor legte damals überzeugend dar, dass das Dilemma, das sich durch den Multikulturalismus stellt, nicht hintergehbar ist. Der Gleichheitsgrundsatz der Aufklärung gebiert das Problem der Anerkennung – die Frage, wie diese in Gesellschaften ohne fest gefügte Hierarchien zu bewerkstelligen ist, stellt sich im Zeitalter des Multikulturalismus nicht neu, sondern bloß verschärft. Huntingtons Behauptung, Multikulturalismus sei unamerikanisch, ist in diesem Licht absurd – es gibt nichts Amerikanischeres, zumal Amerika angetreten war, die Widersprüche aufzulösen, die sich dem alten Europa stellten. Amerika ist die Differenz Europas zu sich selbst, formulierte es der Deutsch-New-Yorker Dekonstruktivist Anselm Haverkamp einmal.

Der Kulturkampf, der wieder einmal tobt, ist somit alles andere als ein neuer – er ist so etwas wie der Daseinszustand der USA, den ängstliche Konservative wie Huntington aber offenbar nicht aushalten. Um den uralten Ursprung dieses Kulturkampfs zu belegen, zitiert etwa Michael Kazin in der New York Times James Madison, einen der Unterzeichner der Verfassung: „Herrscher, die die Freiheit des Volkes unterwandern möchten, finden in willigen Klerikalen nützliche Handlanger. Eine gerechte Regierung, die bürgerliche Freiheit sichern möchte, brauchte diese nicht.“ Wie damals geht es auch heute wieder um die Trennung von Kirche und Staat. Das bekam erst im vergangenen November der Oberste Richter des Staates Alabama, Roy Moore, zu spüren. Mit dem Rückenwind der neuen Stimmung im Land fühlte er sich bemüßigt, in seinem Gericht ein Monument der Zehn Gebote zu errichten. Die Institutionen Amerikas funktionierten trotz der Regierung, und das macht Hoffnung: Der Richter wurde seines Amtes enthoben.

Die Trennung zwischen Staat und Kirche ist laut Charles Taylor der stärkste Ausdruck eines prozeduralen Liberalismus – einer Tradition, die tief in den amerikanischen Institutionen verankert ist. Sie stellt sicher, dass der Staat keine Werturteile fällt – sie bevorzugt, wie Taylor schreibt, keine Version des „guten Lebens“, sie weigert sich gewissermaßen, eine Kernkultur zu favorisieren. An der Kraft dieser Tradition beißt sich im aktuellen Kulturkampf die konservative Rechte die Zähne aus. Um zu verhindern, dass die Legalisierung der Schwulenehe in Massachussetts Schule macht, streben die Republikaner etwa einen Verfassungszusatz an, der die heterosexuelle Ehe festschreibt – ohne wirkliche Aussicht auf Erfolg. Die Hoffnung, das Verfassungsgerichtsurteil von 1973 zur Legalisierung der Abtreibung zu revidieren, haben die Konservativen bereits aufgegeben.

Ganz so trübe, wie es von Europa aus bisweilen scheinen mag, schaut es in den USA also anno 2004 nicht aus. Auch wenn es die Konservativen nicht gern sehen, der Liberalismus erweist sich als „fighting creed“, wie Charles Taylor ihn gern sieht, als wehrhafter Glaube. Etwa in der Person Al Gores, der kürzlich Bush für seine Ideologisierung der Politik zurechtwies: „Was die USA auszeichnet“, schloss er seine flammende Rede, „ist die Herrschaft des Rechts, unser sorgfältig konstruiertes System der Gewaltenteilung, unser Misstrauen gegenüber jeglicher Konzentration von Macht und unsere Verpflichtung gegenüber Offenheit und Demokratie.“

Der liberale Gore findet die Rechte unamerikanisch, weil sie den Kulturkampf in die Institutionen trägt. Die Rechte findet die Liberalen unamerikanisch, weil sie dies nicht tut. Wie es scheint, ist die Rechte dabei zu weit gegangen, die Zustimmung für Bush schwindet. Jedenfalls im Augenblick.