Editorial
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Am Abend des 16. Juni 1904 ging über Dublin ein kurzes, heftiges Gewitter nieder. Den Tag über war das Wetter schön gewesen: warm, trocken – bis auf einen kurzen Schauer am Vormittag, der die Straßen schwarz sprenkelte; aber auch das war nichts Spektakuläres, das Hereinholen der Wäsche hätte sich kaum gelohnt. Genau hundert Jahre ist das jetzt her; und es gehört nicht viel dazu zu behaupten, dass sich die Welt an diesen Tag aus einem bestimmten Grund erinnert: James Joyce hat ihn, wenn man so will, verewigt. An diesem Tag lässt er seinen Ulysses spielen – weshalb der Tag auch „Bloomsday“ heißt, benannt nach Leopold Bloom, dem Helden des Buches von Joyce.

Heute ist der 16. Juni 2004, und mit dem hundertsten Bloomsday feiert die taz ein Buch, das für nicht wenige den Beginn der Moderne in der Literatur markiert. Dabei kommen uns heute seine Modernismen anachronistisch vor, und vergleichsweise harmlos scheinen jetzt seine vermeintlichen Obszönitäten und Blasphemien, deretwegen der Ulysses in den USA bis 1933 und in Großbritannien noch länger verboten war. Ein Buch, das ganz zu Recht im Ruf steht, schwierig zu sein: Sperrig und gewichtig liegt es wie ein Stein im Regal. Von der ersten Seite an entzieht es sich der gefälligen Lektüre, bis zur letzten Seite will es weniger gelesen als vielmehr ausgeleuchtet werden. Man könnte sagen, dass es sich um ein Mitmachbuch handelt, wenn einen dieses Sakrileg nicht schaudern machen würde. Nur ist es genau das, wozu Joyce uns auffordert: mitzumachen. Mit dem Versprechen, dass dies mit Gewinn geschieht. Zugegeben, die Schwelle ist hoch, aber sie überschreitend, hat man Lesestoff für lange Zeit.

Mit den runden Terminen unserer kanonischen Bücher gehen Zeitungsredaktionen oft routiniert um. Gewiss hätte auch die taz zum hundertsten Bloomsday einen des Ulysses kundigen Menschen bitten können, einen klugen und erhellenden Aufsatz über den Ulysses zu schreiben. Dann gäbe es einen klugen und erhellenden Aufsatz über den Ulysses mehr in einer beachtlichen Reihe kluger und erhellender und sicher allesamt lesenswerter Aufsätze über den Ulysses. Aber das reichte uns in diesem Fall nicht. Wir wollten ans Eingemachte gehen: schauen, was dran ist am Ulysses. Wir wollten – das Buch gleichsam aufschrauben und wieder neu zusammensetzen und dabei sehen, was dann übrig bleibt. Und wir wollten neugierig sein, die Routine verlassen; so wie schließlich auch Joyce alle Routinen des Bücherschreibens verlassen hat.

Das Ergebnis halten Sie nun in Ihren Händen. Es ist folgendermaßen entstanden: Zunächst baten wir 17 vom „Ulysses“ nicht oder wenig verbildete taz-KollegInnen, sich die Bearbeitung der einzelnen Kapitel des Buches unter Wahrung des Urheberrechts anzumaßen. Gemeinsame Vorgaben gab es nur wenige, im Wesentlichen gab es nur eine: Bloß keine falsche Ehrfurcht! So durfte jeder mit seinem Kapitel verfahren, wie er wollte – schließlich hat auch Joyce seine Kapitel individuell gestaltet. Und so hat denn im vergangenen Vierteljahr die normale Zeitungsarbeit in der taz eine Art Lektüreseminar begleitet, dem die Überschrift „Erfahrung machen mit dem Ulysses“ gegeben werden könnte. Mails über dunkle Stellen gingen hin und her, wir haben uns gegenseitig in unseren Ideen bestärkt – und, auch dies sei eingeräumt, die Regeln des Journalismus dabei kollektiv außer Kraft gesetzt. In diesem einen Fall. Morgen, dies sei hier versprochen, werden Sie wieder eine normale taz-Ausgabe in den Händen halten.

Ist aber diese Ausgabe der taz noch eine Tageszeitung? Selbstverständlich: nein. Oder doch? Immerhin feiert sie das Buch eines Tages und darüber hinaus eines Alltags oder, unzweideutiger, jeden Tags. Joyce selbst hat auf den (übrigens blauen) Umschlag seines Buches nicht „Roman“ geschrieben. Der Ulysses trägt keine Gattungsbezeichnung. Mögen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden, was der Ulysses für sie ist. Das gilt natürlich auch für unsere Autorinnen und Autoren – mit dem Ergebnis, dass eine Menge Nachrichten über unsere Gegenwart in diese taz-Ausgabe Eingang gefunden haben.

Wir wünschen Ihnen und uns einen schönen Bloomsday, lebhaft genug und geruhsam genug, gerade so, wie ein jeder ihn braucht. Bleibt noch, die AutorInnen und Autoren zu nennen. Mitgeschrieben an dieser Ausgabe haben (in alphabetischer Reihenfolge): Robin Alexander, Dietmar Bartz, Doris Benjack, Ralph Bollmann, Bernd Cornely, Wolfgang Gast, Ulrike Herrmann, Jörn Kabisch, Dirk Knipphals, Richard Nöbel, Tobias Rapp, Jan Rosenkranz, Jürgen Schneider, Waltraud Schwab, Christian Semler, Ralf Sotscheck, Ulrike Winkelmann. Ganz besonderer Dank gilt Dr. Seán Ó Riain, dem Kulturattaché der irischen Botschaft in Deutschland, für seine Mitarbeit am 12-Uhr-Kapitel.

Richard Nöbel, Dietmar Bartz, Dirk Knipphals